Murat Karayılan vom Exekutivrat der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) hat sich im Interview mit ANF zu den Hintergründen der fortgesetzten Isolationshaft des kurdischen Vordenkers Abdullah Öcalan sowie den Anschlägen von Paris geäußert.
Die Isolation des kurdischen Repräsentanten Abdullah Öcalan verschärft sich mehr und mehr. Was beabsichtigt die türkische Regierung?
Kein anderes Rechtssystem würde die vom AKP/MHP-Regime auf Imrali konzipierte Praxis gegen Rêber Apo tolerieren. Ein anderes Beispiel dieser Art der Isolation und Folter existiert gegenwärtig nicht. Selbst im Kolonialrecht gab es gewisse Rechtsnormen, die befolgt wurden. Aber das auf Imrali umgesetzte Foltersystem und die dort gültige Isolierungspolitik gehen weit über koloniale Zustände hinaus. Vielmehr handelt es sich um eine neue Form der Herrschaftspraxis mit undefinierten Dimensionen, die jegliches Menschenrecht und moralische Werte mit Füßen tritt. Imrali ist im Grunde ein Spiegel, der aller Welt die Rücksichtslosigkeit und Gesetzlosigkeit der genozidären Politik des türkischen Staates in Kurdistan offenbart. Diese Politik, die in der Person unseres Vorsitzenden umgesetzt wird, betrifft die gesamte Gesellschaft. Es ist eine Politik der Isolation, der Ausgrenzung und letztlich der Beseitigung der gesamten Gemeinschaft.
Das Verteidigungsteam Öcalans sowie seine Familienangehörigen stellen regelmäßig Anträge auf Mandantengespräche und Besuchsgenehmigung. Doch diese Ersuchen werden entweder abgelehnt oder gar nicht erst beantwortet.
Wir wissen von weit mehr als tausend Anwältinnen und Anwälten, die sich für Besuche auf Imrali engagiert haben. Auch Rechtsanwaltskammern und Parlamentsabgeordnete haben entsprechende Anträge gestellt. Das eigene Verteidigungsteam und die Familie von Rêber Apo reichen ohnehin regelmäßig, soweit ich weiß jede Woche, Besuchsersuchen ein. Zuletzt haben auch diverse internationale Rechtsorganisationen öffentlich ihren Wunsch nach einem Treffen auf der Insel geäußert. Wir sehen also, dass die Situation Rêber Apos auf globaler Ebene ein gewisses Echo hervorgerufen hat und die rechtswidrige Imrali-Praxis des AKP/MHP-Regimes dechiffriert worden ist. Weltweit melden sich immer wieder verschiedene Kreise zu Wort, die das Unrecht auf Imrali verurteilen und Stellung gegen die unmenschlichen Bedingungen dort beziehen. Trotz alledem setzt der türkische Staat, der sich bei seinem Handeln auf die internationalen Komplott-Kräfte stützt, den jenseits humaner Maßstäbe angewandten Umgang mit Rêber Apo in völliger Gleichgültigkeit nach wie vor an unserem Volk um. Wir stehen hier einem System der gesellschaftlichen Folter gegenüber. Das ist es, was auf Imrali zur Anwendung kommt. Doch ob am Widerstand der Guerilla in Kurdistan, der Haltung unseres Vorsitzenden und seiner Mitgefangenen auf Imrali, dem Kampf in den Gefängnissen gegen Unterdrückung und die völlige Entrechtung, der Gegenwehr oder der ständig neu auflebenden Revolten der Bevölkerung gegen die Repression, die sich permanent durch alle gesellschaftlichen Schichten und politischen Aktionsfelder zieht – es offenbart sich, immer und immer wieder, dass die Vernichtungspolitik in Kurdistan und die dort gültige Methode der Folter, Gewalt und Verleugnung den Herrschenden keine Ergebnisse bringen wird.
Der aus der Mitte des Widerstands des kurdischen Volkes aufsteigende Wille zur Entschlossenheit; der konsequente Befreiungskampf der Frauen und ihre Verbundenheit zur Linie von Rêber Apo; die Tatsache, dass die Guerilla immer wieder ihre Unbesiegbarkeit bewiesen hat – all dies zeigt klar und deutlich die Realität, dass die Gewaltpolitik des türkischen Staates vergeblich ist. Gleichzeitig offenbart uns diese Situation, dass einzig die Perspektiven von Rêber Apo die Kanäle für eine Lösung dieser Probleme entsperren können. Daher ist die Devise „Nicht Isolation, sondern Freiheit für Serok Apo“ unser Schlüssel. Der Weg zu Demokratie und Wohlstand in der Türkei, zu einem geschwisterlichen, gleichberechtigten und freien Leben der Völker, führt über einen freien Öcalan und die Realisierung seiner Lösungsvorschläge. Einen anderen Weg gibt es nicht.
Wenige Tage vor dem Jahrestag der Massaker vom 9. Januar 2013 in Paris sind mitten in Frankreich erneut kurdischstämmige Menschen zum Ziel eines tödlichen Anschlags geworden. Eine dieser Gefallenen, Evîn Goyî (Emine Kara), war Ihre Freundin und Genossin. Was können Sie über das zweite Massaker von Paris sagen?
Die Massaker von Paris sind zwei weitere Erscheinungen, die die kaltblütige Politik des Völkermords des türkischen Staates in Kurdistan bietet. Mit Respekt und Dankbarkeit gedenke ich der Gefallenen, insbesondere verneige ich mich vor unserer Weggefährtin und Parteimitbegründerin Sara (Sakine Cansız), die zusammen mit den Genossinnen Rojbîn (Fidan Doğan) und Ronahî (Leyla Şaylemez) gefallen ist. Ich appelliere an das patriotische kurdische Volk und befreundete Völker, sich an der Gedenkdemonstration am 7. Januar in Paris anlässlich des zehnten Todestages unserer Freundinnen zu beteiligen. Eine kraftvolle Beteiligung würde ein wichtiges Signal für die juristische Verfolgung der türkischen Täter setzen.
Mein Gedenken gilt auch unseren drei anderen Gefallenen von Paris; KCK-Exekutivratsmitglied Evîn Goyî (Emine Kara), Mîr Perwer und Abdurrahman Kızıl. Mîr und Abdurrahman waren Patrioten, die sich durch Entschlossenheit und Opferbereitschaft auf unserem Marsch für Freiheit auszeichneten. Als talentierter Musiker, der seine Kunst mit dem kurdischen Widerstand verband, zeigte Mîr, wie tief sein Wesen im Patriotismus wurzelte. Und auch die Realität dessen, dass Abdurrahman Kızıl als freiheitsliebender Mensch jahrzehntelang sein gesamtes Handeln in das Interesse des Widerstands stellte, gilt es stets aufs Neue zu würdigen.
Genossin Evîn Goyî kannte ich sehr gut. Sie war eine Militante für die Freiheit und eine entschlossene, unerschütterliche Vorkämpferin der Frauenbefreiungslinie. Eine mutige kurdische Frau und Symbol für Werte wie Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit, Opferbereitschaft und eine moralische Haltung auf der Basis von Freiheit – das war Hevala Evîn. Sie war keine gewöhnliche Frau, sondern eine richtungsweisende Freiheitskämpferin, eine Persönlichkeit mit individuellen Eigenschaften, die sich durch Aufrichtigkeit, Ernsthaftigkeit und jahrelange Arbeit und Erfahrung auszeichnete. Sie war eine bedeutende revolutionäre Kämpferin, die von einer harmonisierten Energie aus dem führenden Patriotismus der Botan-Region und dem Apoismus geformt und geleitet wurde. Hevala Evîn ließ in ihrem Herzen eine ganze Gesellschaft aufblühen. Sie repräsentierte das für Botan typische Nationalbewusstsein, stand für Hingabe und Mut. Ihr Tod ist für unsere Befreiungsbewegung und das kurdische Volk kein gewöhnlicher Verlust.
Wie interpretieren Sie den Zeitpunkt dieses Angriffs?
Ist es ein Zufall, dass sich der Anschlag fünf Tage vor dem elften Jahrestag des Massakers von Roboskî ereignete? Ich glaube nicht, dass Evîn Goyî und die beiden anderen Kameraden so kurz vor diesem wichtigen Datum – und vor dem zehnten Todestag des ersten Anschlags von Paris völlig wahllos ins Visier genommen wurden. Hevala Evîn stammte aus der Gegend um Roboskî. Sie gehörte nicht nur zum selben Stamm wie die Getöteten des Massakers, sondern stand im verwandtschaftlichen Verhältnis zu ihnen. Sie war eine Revolutionärin, die den Widerstand von Sara, Rojbîn und Ronahî übernommen hatte und ihre Schritte in Paris als deren Vertreterin setzte. Da soll es Zufall sein, dass eine militante Pionierin, die eng mit den Protagonisten beider Geschehen verbunden ist, im Herzen von Paris angegriffen wird? Wer kann ausschließen, dass die Ermordung unserer Freundin Evîn Goyî vom Exekutivrat der KCK durch einen vermeintlich rassistischen Todesschützen nicht gezielt und Teil eines umfassenderen Plans war? Niemand. Es ist offensichtlich, dass wir es mit einem durchdachten Plan zu tun haben, einer bewussten und organisierten Zielsetzung sowie Umsetzung.
Der türkische Staatsterror in Kurdistan hat allein in den 1990er Jahren 17.000 Verschwundene durch unbekannte Täter (d.h. durch parastaatliche und staatliche Kräfte) gekostet. So viele Menschen wurden damals Opfer von extralegalen Hinrichtungen, die sich oftmals mitten auf der Straße ereigneten. Im Hinblick auf die Tatsache, dass der türkische Besatzerstaat bevorzugt kurdische Frauen ins Visier nimmt, kann daher mitnichten von Zufall gesprochen werden. Ziemlich konkret geht es darum, der kurdischen Frauenbewegung, deren Linie eine maßgebliche Rolle dabei spielt, dass sich Menschen nicht nur innerhalb der kurdischen Gesellschaft, sondern weltweit mit dem Paradigma von Rêber Apo auseinandersetzen, entgegenzutreten. Es ist eindeutig, dass das zweite Massaker von Paris ebenso wie der Dreifachmord vom 9. Januar 2013 vom türkischen Geheimdienst MIT geplant worden ist. Ich möchte betonen, dass wir zu keinem Zeitpunkt hinnehmen werden, dass unser unbewaffnetes und wehrloses Volk auf eine derart verachtenswerte und niederträchtige Weise angegriffen wird. Die Verantwortlichen werden in jedem Fall zur Rechenschaft gezogen. Die Erinnerung an diese wertvollen Weggefährt:innen wird in der Krönung unseres erfolgreichen Freiheitskampfes lebendig bleiben.
Uns ist bewusst, dass das faschistische AKP/MHP-Regime gerade gegenüber der kurdischen Frauenbewegung besonders rachsüchtig ist. Am 4. Januar 2016, es war die Zeit des Widerstands um Selbstverwaltung, wurden mit Sêvê Demir, Pakize Nayır und Fatma Uyar drei Pionierinnen der Frauenbewegung in Silopiya gemeinsam mit einem Jugendlichen namens Islam von einem Todeskommando hingerichtet. An dieser Stelle gedenke ich dieser vier Gefallenen und allen anderen Heldinnen und Helden, die in diesem Widerstand ihr Leben gaben, mit Liebe und Respekt. Ich möchte auch unsere Entschlossenheit zum Ausdruck bringen, unser Versprechen an sie zu erfüllen. Sie spielten eine historische Rolle und sind als Helden einer wichtigen Epoche in die Geschichte eingegangen. Ihr Wille zum Widerstand ist eine grundlegende Kraft, die bis heute die Basis unseres Kampfes bildet.
Welche Aufgabe fällt der französischen Regierung hinsichtlich der Massaker von Paris zu?
Der französische Staat ist verpflichtet, die wahren Täter dieser Morde zu ermitteln. Das ist die Erwartung aller Menschen in Kurdistan. Wir schätzen den Umgang demokratischer Kreise in Frankreich mit der Forderung nach Aufklärung beider Massaker, erwarten aber auch von der Regierung, dass sie dieselbe Haltung einnimmt und die Verantwortlichen enttarnt. Dafür sollte sie sich die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte der Französischen Revolution von 1789 zugrunde legen, statt die Gerechtigkeit schmutzigen wirtschaftlichen Interessen zu opfern und dadurch eine Aufklärung aktiv zu verhindern. Hier steht die derzeitige französische Staatsführung vor einer Bewährungsprobe. Wird sie sich auf schmutzige politische und wirtschaftliche Interessen oder auf das Gesetz stützen? Dies wird sich in der nächsten Zeit zeigen. Es liegt auf der Hand, dass Frankreich unter seiner Mitschuld leiden wird, solange es sich einem angemessenen und fairen Vorgehen verweigert.