Den Traum von Nagihan Akarsel weiterführen: Die Frauenbibliothek in Silêmanî

Im Gedenken an die vom türkischen Geheimdienst ermordete Journalistin und Jineolojî-Forscherin Nagihan Akarsel ist eine Broschüre über ihre Arbeit in Südkurdistan erschienen.

Das Jineolojî Komitee Deutschland und die feministische Organisierung Gemeinsam Kämpfen haben eine Broschüre zum Gedenken an Nagihan Akarsel herausgegeben. Die Jineolojî-Wissenschaftlerin und Frauenkämpferin wurde am 4. Oktober 2022 in Silêmanî durch den türkischen Geheimdienst ermordet. Die Zusammenstellung von Texten und Bildern stellt auf 70 Seiten die Arbeiten von Nagihan Akarsel in Silêmanî, Südkurdistan (Nordirak), vor.

Mit der Broschüre soll verdeutlicht werden, welche besondere Bedeutung die Jineolojî-Arbeiten in Südkurdistan haben. Über das Frauenkunstprojekt Xwebûn – Selbst-Sein – hat die Jineolojî einen Zugang zur Gesellschaft gefunden. Parallel wurde am Aufbau der Kurdischen Frauenbibliothek, Archiv und Forschungszentrum in Silêmanî gearbeitet, der bereits sehr weit vorangekommen ist. Die Bibliothek ist als ein Bezugspunkt gedacht für die vielen verschiedenen Kulturen im Nahen Osten und mit Frauen aus anderen Teilen der Welt. Sie soll Brücken bauen und Kooperationen schaffen mit Frauen weltweit. Daran hat Nagihan Akarsel mit Freude und Entschlossenheit gearbeitet, es war ihr Traum. Sie war auf dem Fußweg zur Frauenbibliothek, als sie erschossen wurde.

Bibliothek, Archiv und Forschungszentrum kurdischer Frauen in Silêmanî

Die Herausgeberinnen erklären: „Dieser schöne und kraftvolle Traum von Nagihan soll trotz ihrer Ermordung und anderen möglichen Schwierigkeiten Wirklichkeit werden. Daran möchten wir gemeinsam arbeiten. Wir werden den Traum von Nagihan Akarsel aufgreifen, fortführen und verwirklichen. Dazu laden wir euch alle ein.“ Sie fordern dazu auf, die Broschüre zu lesen und über Nagihan, ihr Leben, ihre Erfolge und ihre Träume zu sprechen.

Kollektiv des Frauenkunstprojekts Xebûn

In der Broschüre wird zum einen das Frauenkunstprojekt Xebûn – Selbst-Sein – in Texten und Bildern vorgestellt. Dieses sehr erfolgreiches Ausstellungsprojekt aus dem letzten Jahr bot einen künstlerisch-intellektuellen Zugang zu Tabuthemen der Verletzung, Abwertung und Ignorierung von Frauen, ihrer Selbstbestimmung und Möglichkeiten der Selbstorganisierung. Das funktioniert im städtisch-kulturellen Leben von Silêmanî sehr gut. Somit hat die Jineolojî auf diese Weise ihren Weg in die Gesellschaft dort gefunden. Nagihan Akarsel spricht in einem Interview über die ersten Schritte, individualisierte Künstlerinnen zusammenzubringen und sich nicht nur auf die Erkundung des freien Selbst zu begeben, sondern auch ein Gleichgewicht zwischen Selbst-Sein und Kollektiv-Sein herzustellen. Eine große Dynamik wurde entfaltet. Frauen haben dabei Vertrauen und Hoffnung entwickelt, Männer wurde inspiriert, sich auch auf die Suche zu machen. Zum Zeitpunkt der Ermordung von Nagihan war gerade die Dokumentation des Xwebûn-Kunstprojektes der JinArt (Frauenkunst) als Broschüre und Film fertiggestellt worden.

Nagihan Akarsel mit der Künstlerin Zehra Doğan

Im Weiteren wird in der Broschüre das Konzept der Kurdischen Frauenbibliothek, Archiv und Forschungszentrum ausführlich vorgestellt. Der Gründungsvorstand, ein Bündnis von engagierten Frauen, geht darin auf das Unsichtbarmachen der Geschichte von Frauen wie auch von kolonialisierten Gesellschaften ein. Diese ausgeblendete Geschichte Marginalisierter wurde immer wieder zum Anlass für Kämpfe. Für kurdische Frauen wirkt beides – Frau zu sein und als Kurdin kolonialisiert zu sein – miteinander als mehrschichtige Marginalisierung, was es umso bedeutender macht, vom Standpunkt der Frauen aus und auch in Überwindung des Orientalismus in den Darstellungen, die Teilnahme der Frauen an der Geschichte zu erforschen und zu archivieren.

Silêmanî wird als genau der richtige Ort für die Frauenbibliothek und ihre Forschungsarbeit gesehen, da sich diese Stadt durch ihre intellektuelle Identität auszeichnet und dort Frauen aus allen Teilen Kurdistans leben. Nach ihrem Selbstverständnis wird die Bibliothek den Frauen in Kurdistan ermöglichen, selbst die Stimme der eigenen Geschichte zu sein. Sie sehen ihre wissenschaftliche Fundierung in der Jineolojî und möchten mit dem Forschungs- und Erinnerungszentrum eine bedeutende Lücke im Kampf der kurdischen Frauen ausfüllen und kurdische Frauen wie Frauen aus dem Nahen Osten mit Frauen der ganzen Welt zusammenbringen.

Viele Vorbereitungen sind erledigt, um im Frühjahr 2023 die Kurdische Frauenbibliothek, Archiv und Forschungszentrum in Silêmanî feierlich eröffnen zu können. Ein wunderschönes Gebäude mit kleinem Vorgarten und großer Dachterrasse wurde gefunden und stilvoll eingerichtet. Es wird bereits als Treffpunkt und Arbeitsraum genutzt. Weiterhin wird noch finanzielle und partnerschaftliche Unterstützung des Aufbaus der Frauenbibliothek gesucht.

Nagihan Akarsel mit einer Ezidin bei soziologischen Studien in Şengal

In der Broschüre werden auch zwei Nachrufe zum Mord an Nagihan Akarsel abgedruckt. In einem hatten das Jineolojî Komitee Deutschland und Gemeinsam Kämpfen auf die Zusammenhänge zum Frauenaufstand im Iran hingewiesen: „Mit dem tödlichen Angriff auf die Frauenrechtlerin Nagihan Akarsel in Silêmanî werden auch all diejenigen angegriffen, die seit Wochen weltweit mit dem Slogan ‚Jin-Jiyan-Azadî‘ [Frau-Leben-Freiheit] auf den Straßen sind. Dieser Slogan kommt aus der kurdischen Frauenbewegung und drückt das Frauenfreiheitsdenken aus, das Nagihan Akarsel mitgeprägt und in lebendige Praxis umgesetzt hat. Der Aufruhr, der seit dem Femizid an Jina Mahsa Amini nicht abreißt, wird nun verstärkt durch die Proteste gegen den Femizid an Nagihan Akarsel.“ Angesichts solcher frauenfeindlichen Angriffe wie gegen Jina Amini im Iran und Nagihan Akarsel in Silêmanî, mit denen Frauenbewegungen und Frauenforschung unterbunden werden sollen, sei es umso wichtiger, sich mit diesen zu solidarisieren und Partnerschaften aufzubauen.

„Jin Jiyan Azadî“: Abschied von Nagihan Akarsel in Silêmanî

Die Herausgeberinnen wünschen sich eine schnelle Verbreitung der Broschüre. „Bringt die Broschüre in befreundete Buch- und Infoläden, legt sie auf Veranstaltungen, in Cafés und Kneipen aus, gebt sie weiter an Interessierte. Wir möchte auch die eigenen, engeren sozialen Kreise verlassen und das Leben, den Kampf und die Träume von Nagihan Akarsel all denjenigen näherbringen, die z.B. die Bedeutung von Frauenbibliotheken und -archiven schätzen, die feministische Forschung machen oder unterstützen, die sich für Frauenkunstarbeit wie dem Xwebûn-Projekt interessieren, die die Bedeutung feministischer Organisierung und Entwicklung antipatriarchaler Denk- und Lebensweisen sehen und die Arbeiten der Jineolojî und der Kurdischen Frauenbewegung kennenlernen möchten, und vielen mehr…“

Gedenken: „Wir werden den Traum von Nagihan Akarsel aufgreifen, fortführen und verwirklichen“

Eine Lesedatei sowie eine Druckdatei der Broschüre sind zum Download verfügbar.