Der 22. Verhandlungstag im Prozess gegen die TJA-Sprecherin Ayşe Gökkan stand sinnbildlich für die Anwendung des Feindstrafrechts durch die türkische Justiz gegen die kurdische Gesellschaft. Anwältinnen und Anwälte wurden auf Anordnung des Richters gewaltsam des Saales verwiesen, die Polizei wurde auch den Angehörigen der Politikerin gegenüber handgreiflich. Eine Schwester Gökkans brach im Handgemenge zusammen und musste in ein Krankenhaus eingeliefert werden, die Festnahme des Neffen wurde durch Abgeordnete der Demokratischen Partei der Völker (HDP) verhindert. Den Vorsitzenden der Rechtsanwaltskammer von Amed (tr. Diyarbakir), Nahit Eren, beschimpfte ein Polizist als „ehrenlosen Rüpel“, bevor er ihn buchstäblich hinauswarf. Einer Verteidigerin wurde es untersagt, sich Wasser zu holen.
Ayşe Gökkan sitzt seit Januar in Amed in Untersuchungshaft. Ihr drohen bis zu 35 Jahre Freiheitsstrafe, weil sie laut Anklage eine Führungsposition in einer terroristischen Organisation innehaben soll – gemeint ist die kurdische Arbeiterpartei PKK. Gökkan weist die Vorwürfe gegen sie zurück und sprach bei der heutigen Verhandlung von einem kafkaesken Szenario, das aus der Feder von Staatsanwaltschaft, Polizei und vermeintlichen Zeugen stamme. Die Anklageschrift beziehungsweise der Teil, den sie bislang einsehen konnte – die Gefängnisverwaltung verweigerte bisher die Aushändigung aller Seiten – sei durchzogen von Ungereimtheiten.
Ayşe Gökkan ist seit Februar 2020 Sprecherin der Bewegung freier Frauen (TJA)
„Es wurde eine Ayşe entworfen, mit der ich nicht im Geringsten etwas zu tun habe. Mir werden Dinge vorgeworfen, die ich, selbst wenn ich wollte, gar nicht durchführen könnte, da ich seit Jahren unter permanenter Überwachung stehe und meine Telefonate illegal abgehört werden. Im Übrigen müsste so jemand wie die ‚Ayşe‘ der Anklage doch auf frischer Tat ertappt werden. Mir dagegen, einer investigativen Journalistin und Aktivistin, die auch international bekannt ist, wird vorgehalten, im Ausland an Veranstaltungen teilgenommen zu haben, für die ich auf dem offiziellen Weg ausgereist bin.“
Kein Recht auf faires Verfahren
Gökkan wies das Gericht darauf hin, dass ihr das Recht auf ein faires Strafverfahren verweigert wird: „Als Beschuldigte muss ich die Möglichkeit erhalten, mich gegen jeden Strafvorwurf effektiv verteidigen zu können. Dieses Recht wird mir nicht eingeräumt, weil ich nicht weiß, was mir alles zur Last gelegt wird.“ Einen Antrag auf Vertagung der Verhandlung zur Vorbereitung ihrer Verteidigung wies das Gericht ebenso ab wie ein Ablehnungsgesuch und die Forderung nach der vollständigen Übersetzung aller Abhörungsprotokolle. Ayşe Gökkan bleibt in Untersuchungshaft.
Nahit Eren spricht bei einer Pressekonferenz nach der Verhandlung
Anwaltskammer will gegen Richter vorgehen
Die Rechtsanwaltskammer Amed hat derweil angekündigt, juristische Schritte gegen den vorsitzenden Richter einzuleiten. „Wir werden uns dieser Willkür, den Rechtsverletzungen und der Verweigerung von Grundrechten nicht beugen und in jedem Fall eine Beschwerde einreichen. Jedoch ist festzuhalten, dass es sich hierbei nicht um einen einmaligen Aussetzer des Richters handelt“, erklärte Eren bei einer Pressekonferenz im Anschluss an die Verhandlung. Es scheine eher eine Gewohnheit zu sein. Der Prozess gegen Ayşe Gökkan wird am 13. Oktober fortgesetzt.
Ayşe Gökkan: Journalistin, Bürgermeisterin, Feministin
Ayşe Gökkan ist 1965 in Pirsûs (Suruç) geboren und hat Journalismus studiert. Sie ist bereits über 80 Mal festgenommen worden, die Ermittlungsverfahren gegen sie stützten sich in der Regel auf sogenannte Terrorvorwürfe. 2009 wurde Gökkan mit 83 Prozent der Stimmen zur Bürgermeisterin der Kreisstadt Nisêbîn (Nusaybin) gewählt. Die meisten Ermittlungsverfahren gegen sie fallen in ihre Amtszeit. Zur Sprecherin der TJA wurde Gökkan im Februar 2020 gewählt. Im Dezember desselben Jahres wurde sie in Mêrdîn (Mardin) zu achtzehn Monaten Haft verurteilt worden. In dem Verfahren wurde sie beschuldigt, sich in militärischem Sperrgebiet aufgehalten und Sachschäden verursacht zu haben. Der Vorwurf geht auf eine Aktion des zivilen Gehorsams im Oktober 2013 zurück. Zu dem Zeitpunkt war Gökkan Bürgermeisterin von Nisêbîn und protestierte mit einem Hungerstreik an der Grenze nach Syrien gegen den Bau einer Mauer.