Mit der Pandemie steigt die patriarchale Gewalt
Die Vorsitzende des in Amed ansässigen Frauenvereins Rosa, Adalet Kaya, warnt vor steigender patriarchaler Gewalt und Frauenmorden in Zeiten der Pandemie.
Die Vorsitzende des in Amed ansässigen Frauenvereins Rosa, Adalet Kaya, warnt vor steigender patriarchaler Gewalt und Frauenmorden in Zeiten der Pandemie.
Auf der ganzen Welt wurden Quarantänemaßnahmen gegen die Covid-19-Pandemie verhängt. Viele Familien sind daher weitgehend auf ihre Wohnungen beschränkt. Insbesondere für Frauen bedeutet dies einen Anstieg der Gefahr patriarchaler Gewalt.
Nach offiziellen Angaben von Frauenorganisationen haben sich die Zahlen von gemeldeten patriarchalen Gewaltvorfällen in der Familie für die Türkei und Nordkurdistan im März 2020 im Vergleich zum Vorjahreszeitraum massiv gesteigert. Wir haben mit Adalet Kaya, der Vorsitzenden des Frauenvereins Rosa in Amed (Diyarbakır), über die aktuelle Situation von Frauen in der kurdischen Metropole gesprochen.
Die erfassten Fälle von Gewalt gegen Frauen sind mit dem Ausbruch Pandemie stark angestiegen. Woran liegt das Ihrer Erfahrung nach?
Durch die Vereinzelung und Isolation in den Wohnungen werden die Männer auf sich selbst zurückgeworfen. Das führt zu einem Anstieg von Gewalt und macht diese Verbrechen gleichzeitig unsichtbar. Natürlich sage ich nicht, dass alle Männer gewalttätig werden, aber es wird insbesondere bei Männern, die zu Gewalt neigen, ein gewaltförderndes Umfeld geschaffen. Außerdem „langweilen“ sich die Männer zu Hause. Dadurch werden sie aggressiver, tendieren eher zu Gewalt und diese Gewalt richten sie gegen Frauen. Die erzwungene soziale Distanzierung führt noch zu einem weiteren Problem: Frauen sind vom Arbeitsplatzverlust bedroht und stehen daher unter erhöhtem Armutsrisiko. Das macht es für Frauen, die Gewalt erfahren, schwer, um Hilfe zu bitten und die Person, die ihnen Gewalt antut, zu verlassen oder rechtliche Schritte einzuleiten.
Was kann zur Stärkung der Frauen getan werden?
Der öffentliche und private Sektor müssen sofort unterstützt werden. Außerdem leben wir als Gesellschaft in großen Familien. Wenn alle Männer, von alt bis jung, zu Hause sind, bedeutet das für die Frauen mehr Hausarbeit, mehr Emotionsarbeit und mehr Pflegearbeit. Die Männer müssen nicht nur die Gefahr durch das Virus begreifen, sie müssen verstehen, dass die Hausarbeit nicht alleine die Verantwortung der Frauen ist und sie im Haushalt mitarbeiten müssen.
Wir wissen und erleben, dass die Vertreter der Regierung und ihrer Institutionen durch Wort und Tat tagtäglich strukturelle Grundlagen für patriarchale Gewalt schaffen. Wir sagen zusammen mit allen Frauenorganisationen, dass die Istanbuler Konvention und Gesetz 6284 [Gesetz zum Schutz von Frauen gegen Gewalt] auf wirksame Weise umgesetzt werden und auch für Personen in Justiz und Verwaltung zwingend gelten müssen. Während auf der ganzen Welt von den Vereinten Nationen über die Weltstaaten bis hin zu den die Regierungen extra Maßnahmen und Gesetze umgesetzt und Sonderbudgets für Maßnahmen gegen Gewalt an Frauen freigegeben werden, ist es bei uns genau umgekehrt: Die sowieso nicht funktionierenden Mechanismen wurden wegen der Pandemie eingestellt oder können praktisch nicht arbeiten.
Was sind die Folgen?
Natürlich stärkt diese staatliche Ignoranz und hochgefährlich Praxis, die Frauen allen möglichen tödlichen Risiken aussetzt, die Position der Männer und ermutigt diese. So sinkt die Hemmschwelle bei den Männern vor Gewalttaten. Denn sie wissen, dass sie damit durchkommen. Der Oberste Rat der Richter und Staatsanwälte (HSYK) hat eine Entscheidung getroffen, welche den Schutz durch das Gesetz 6284 praktisch aufhebt und unter dem Vorwand der Gesundheit höhere Hürden zur Entfernung eines Gewalttäters aus dem Haus ansetzt.
Es wurde ja auch ein neues Vollzugsgesetz im Parlament beschlossen. Was bedeutet das?
Der Strafnachlass oder die Entlassung von verurteilten Personen, die Verbrechen an Frauen und Kindern begangenen haben, durch das neue Vollzugsgesetz wirken ebenfalls gewaltfördernd und erschüttern das sowieso kaum vorhandene Vertrauen in die Justiz in der Gesellschaft noch mehr. Auf der anderen Seite werden alle Opfer des Antiterrorgesetzes, die Politiker*innen und Journalist*innen, die aufgrund ihrer Arbeit eingesperrt sind, Personen, die einfach etwas auf Facebook geteilt haben, Oppositionelle und Menschenrechtsaktivist*innen von den Vorzügen des Vollzugsgesetzes ausgenommen. Das ist inakzeptabel. Dieses Vollzugsgesetz ist kein Gesetz, es widerspricht den Grundsätzen der Gleichheit und tritt internationale Konventionen mit Füßen. Es ist nichts weiter als eine Amnestie für Regimeunterstützer. Es wird sowohl die Verbrechen an Frauen und Kindern weiter fördern als auch die Verbreitung der Kinderehe unterstützen.
Was sind Ihre dringendsten frauenpolitischen Forderungen im Zusammenhang mit den Gefängnissen?
Wir betonen zusammen mit allen Frauenorganisationen, dass dieses Gesetz sofort zurückgenommen werden muss, dass Personen, die Verbrechen an Frauen und Kindern verübt haben, ausgenommen werden und für sie entsprechende gesundheitliche Vorkehrungen in den Gefängnissen getroffen werden müssen. Wir fordern, dass die Sicherheit von Frauen und Kinder im Vordergrund steht. Der Staat muss den Grundsatz der Gleichheit und des Rechts auf Leben verteidigen und die Kranken, Alten, Schwangeren und Frauen mit Kindern sowie diejenigen, die Verbrechen gegen den Staat beschuldigt werden, ohne Unterschied umgehend entlassen. Das Gesetz muss in dieser Richtung grundsätzlich verändert werden.
Wie wird im Moment gegen Gewalt gegen Frauen vorgegangen?
Im Moment kommt es immer wieder vor, dass Gerichte und Verwaltung Gewalt gegen Frauen als zweitrangige Angelegenheit betrachten. Es gab schon zu normalen Zeiten immer wieder Fälle von Frauen, die sich bei den Behörden mit einer Gewaltschutzanzeige meldeten und von den Beamten überredet wurden, wieder nach Hause zu gehen. Deswegen muss das Familienministerium umgehend eine Dienstanweisung erlassen, die die Behörden verpflichtet, sich dem Paragraph 6248 und der Istanbuler Konvention entsprechend zu verhalten. Justiz und Verwaltung müssen den Schutz der von Gewalt betroffenen Frauen priorisieren und dem Gesetz entsprechende Schutzmaßnahmen ergreifen.
Das zweite große Problem ist, dass weder die Notrufe noch die Fluchthäuser arbeiten. Das städtische Frauenschutzhaus nimmt seit Tagen niemand mehr auf. Das Zentrum zur Verhinderung und Dokumentation von Gewalt des Familienministeriums (ŞÖNIM) nimmt wegen des Virus keine individuellen Anträge mehr entgegen. Notruftelefone für Frauen arbeiten nicht mehr. Dieses grundfalsche Vorgehen bedeutet, Frauen dem Tod zu überlassen. Um gesund bleiben zu können, muss doch auch erstmal verhindert werden, dass Frauen in Haushalten eingeschlossen sind, in denen sie von Gewalt und Tod bedroht sind.
Was machen Sie als Frauenverein Rosa?
Als Frauenverein Rosa setzen wir unsere Solidaritätsarbeit am Telefon, in den sozialen Medien und über unsere Website fort. Wir wissen nicht, wie lange die soziale Isolation gehen wird, und leider auch nicht, wohin sich das alles entwickelt. Wir informieren auch jetzt in der Zeit der Pandemie Frauen über den Schutz und über die Folgen dieser Zeit. Einer unserer Schwerpunkte liegt im Moment auf dem psychologischen Unterstützungsteam. Dieses Unterstützungsteam besteht aus ausgebildeten Psychologinnen, die ehrenamtlich arbeiten und Frauen in Notsituationen unterstützen. Dann gibt es eine Solidaritätskommission und eine Justizkommission, welche die Frauen über ihre rechtlichen Möglichkeiten informiert und in Notfällen interveniert. Als Frauen sind wir davon überzeugt, dass wir mit Solidarität und gemeinsamen Kampf sowohl die gesellschaftlichen Folgen der Pandemie als auch die Gewalt gegen Frauen überwinden werden. Wir werden die Solidarität und unseren Kampf ausweiten. Wir rufen alle Frauen, die Gewalt, Krankheit, Armut oder sonstige Unbill erfahren, dazu auf, nicht zu schweigen und sich an uns oder andere Institutionen zu wenden. Wir wollen den Frauenwiderstand durch Zusammenarbeit mit Frauen aus der ganzen Welt stärken.