„Ich komme raus und was tust du jetzt?“

Während in der häuslichen Isolation der Corona-Krise Gewalt gegen Frauen und Kinder ansteigt, werden Straftäter in der Türkei im Zuge der Vollzugsgesetzreform aus der Haft entlassen. Für Frauen wird die Situation immer gefährlicher.

Im türkischen Parlament ist in dieser Woche eine Reform des Strafvollzugsgesetzes verabschiedet worden, die politische Gefangene ausschließt und als Amnestie der Regierungskoalition für ihre eigenen Anhänger gilt. 90.000 Gefangene sollen davon profitieren.

Unterdessen ist ein weiterer Gesetzesvorschlag bekannt geworden, der sexuellen Missbrauch von Minderjährigen amnestiert, wenn Täter und Opfer heiraten. Dieser „Reformvorschlag“ ist dem Parlamentspräsidium noch nicht vorgelegt worden. Wie Ayşe Acar Başaran, die Sprecherin des Frauenrats der Demokratischen Partei der Völker (HDP), mitteilt, ist der Vorschlag zeitgleich zu der Verabschiedung des Vollzugsgesetzes in den sozialen Medien aufgetaucht. Es handelt sich demnach zwar nicht um einen offiziellen Vorgang, aber die Regierungskoalition aus AKP und MHP verfolgt diesen Plan bereits seit geraumer Zeit.

Ayşe Acar Başaran betont, dass es im türkischen Strafgesetz keine Definition für Verbrechen gegen Frauen gibt. Mörder und Vergewaltiger können ebenso wie politische Gefangene nicht von der Reform profitieren. „Nicht ausgeschlossen sind jedoch Straftaten an Frauen wie Körperverletzung, Freiheitsberaubung, Bedrohung oder Erpressung oder Kinderpornographie. Hunderte Männer, die deswegen im Gefängnis sind, kommen jetzt frei. Ein Mann, der eine Frau bedroht hat, muss so gut wie gar nicht im Gefängnis bleiben. Verbrecher, die Minderjährige in pornographischen Filmen auftreten lassen, bekommen so gut wie keine Strafe. Sie müssen nur symbolisch ein paar Tage in Haft verbringen und werden danach entlassen.“

Doppelte Gefahr für Frauen und Kinder

Die Entlassung von Straftätern, die Verbrechen an Frauen und Kindern begangen haben, fällt in eine Zeit, in der die häusliche Gewalt aufgrund der Ausgangseinschränkungen in der Corona-Krise stark ansteigt. Die HDP-Politikerin Ayşe Acar Başaran kritisiert, dass keine Schutzmaßnahmen für Frauen und Kinder getroffen worden sind. Vielmehr sind Einrichtungen wie Notruftelefone und Schutzhäuser überlastet und teilweise außer Funktion gesetzt. „Die Frauen wissen nicht mehr, wohin sie sich wenden können. Um in ein Frauenhaus aufgenommen zu werden, muss ein ärztliches Attest über die erfahrene Gewalt vorgelegt werden. Auch dadurch erhöht sich die Gefahr für Frauen. Und gerade in dieser Zeit werden Straftäter, die Verbrechen an Frauen und Minderjährigen begangen haben, aus der Haft entlassen“, so Ayşe Acar Başaran.

Die HDP-Politikerin berichtet von zahlreichen Frauen, die sich bedroht fühlen: „Seit Tagen schildern uns Frauen, dass sie aus dem Gefängnis von den Männern angerufen werden, die sie geschlagen, bedroht oder eingesperrt haben. Die Männer sagen: ‚Ich komme raus und was tust du jetzt?‘ Einer dieser Männer ist sechs Mal wegen Gewalttaten verhaftet worden.“

Die Sprecherin des HDP-Frauenrats appelliert an alle Frauenorganisationen, ihre Solidaritätsnetzwerke zu verstärken: „Wir können wegen der Pandemie nicht auf die Straße gehen, aber das ist kein Grund, um von unserem Kampf abzusehen. Wir haben uns als Frauen bereits unter noch schwierigeren Bedingungen organisiert. Auch jetzt müssen wir uns entschlossen und kollektiv gegen die Regierung stellen, die das Coronavirus für ihre Interessen benutzen will.“