Kongreya Star ruft zur Stärkung von Frauensolidarität auf

Die Frauenbewegung Nordostsyriens hat im Rahmen ihrer Offensive „Nein zu Besatzung und Völkermord, wir werden Frauen und Leben verteidigen“ eine Unterschriftenkampagne initiiert und ruft weltweit feministische Organisationen zur Beteiligung auf.

Als Dachverband der Frauenbewegung von Nord- und Ostsyrien ruft Kongreya Star internationale feministische Organisationen und Einzelpersonen zur Teilnahme an einer Unterschriftenkampagne auf, um die Errungenschaften der Frauenrevolution zu schützen und gegen „Besatzung, Völkermord, Imperialismus und Faschismus“ zu verteidigen. Die am Samstag initiierte Kampagne kann bis zum 25. November, dem internationalen Tag zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen, unterstützt werden. Die Initiative ist Teil der von Kongreya Star unter dem Motto „Nein zu Besatzung und Völkermord, wir werden Frauen und das Leben verteidigen“ eingeleiteten Offensive, deren Ziel es ist, Frauenorganisationen auf lokaler Ebene zu koordinieren, um eine gemeinsame Kraft zu bilden, die sich allen Herausforderungen und Schwierigkeiten stellt und den Kampf und Widerstand durch gemeinsame Aktionen stärkt. Die Offensive wurde am 9. Oktober, dem Jahrestag der türkisch-dschihadistischen Invasion in Serêkaniyê (arab. Ras al-Ain) und Girê Spî (Tall Aybad) gestartet und geht bis zum 9. Januar. Der Tag markiert den achten Todestag der drei kurdischen Revolutionärinnen Sakine Cansız, Fidan Doğan und Leyla Şaylemez, die von einem Auftragsmörder des türkischen Geheimdienstes MIT in Paris erschossen worden sind.

In dem „Aufruf zur Stärkung von Frauensolidarität“ von Kongreya Star heißt es:

In unserem Land herrscht seit neun Jahren Krieg. Zweifellos hatte dieser Krieg verheerende Folgen für das ganze Land. Die vielfältige Bevölkerung in Syrien hat große Tragödien erlitten. Tausende Menschen, darunter Frauen und Kinder, kamen ums Leben, wurden verletzt und mussten aus dem Land fliehen. Unsere Städte wurden zerstört, Menschen mussten in zurückgebliebenen Trümmern leben.

Der Krieg im Land dauert noch an. Es wird lange brauchen, bis ein dauerhafter Frieden und Stabilität erreicht sind, denn sowohl regionale als auch globale Mächte gehören zu den treibenden Kräften des anhaltenden Krieges in Syrien. Es gibt anhaltende Interessenskonflikte, die eher den Anforderungen der globalen und regionalen Mächte als den Anforderungen der Bevölkerung des Landes entsprechen. Der türkische Staat und seine Banden greifen beständig das System an, das die Menschen Syriens, die sich ein demokratisches und freies Land wünschen, versuchen, hier aufzubauen. Gebiete wie Afrin, Bab, Jarablus, Serêkaniyê und Girê Sipî wurden vom türkischen Staat mit Zustimmung der internationalen Mächte, insbesondere Russlands und der USA, besetzt. Die Invasionsangriffe und Drohungen gegen andere Städte und Regionen im Nordosten Syriens, in denen wir leben, gehen weiter.

Nord- und Ostsyrien beziehungsweise Rojava hat im Kampf gegen den IS bedeutende Erfolge erzielt. Die Region ist mit ihrem Widerstand in den Vordergrund getreten und hat dem IS eine historische Niederlage beschert. Die Beendigung der Existenz des IS in dieser Region, der eine Bedrohung für die ganze Welt darstellt, hat den arabischen, kurdischen, assyrischen, aramäischen, armenischen, turkmenischen, zirkassischen und chaldäischen Völkern, die ein gemeinsames  Leben gewählt und ein demokratisches, egalitäres und freies System aufgebaut haben, sehr viel Moral gegeben. Im Kampf gegen den IS haben die Menschen Nord- und Ostsyriens Unterstützung der internationalen Gemeinschaft erhalten. Sie zeigten große Solidarität mit dem anhaltenden Kampf in unserer Region.

Das von den Menschen in Nord- und Ostsyrien aufgebaute System ist für die Lösung der Syrienkrise von zentraler Bedeutung. Die Gespräche in Sotschi, Astana und Genf, die mit dem Ziel ins Leben gerufen wurden, durch Dialoge und politische Mittel eine Lösung der Krise zu finden, aber nicht ausreichen, um die Forderungen anderer Bevölkerungsgruppen Syriens, insbesondere der Kurd*innen, zu erfüllen, wurden zwischen der Türkei, Russland und dem Iran auf der Grundlage der Machtgier und fremder Pläne fortgesetzt. Im Laufe der Zeit stellte sich jedoch heraus, dass sowohl diese Verhandlungen als auch die von den internationalen Mächten angekündigten sogenannten Waffenstillstände die Krise und die Konflikte vertieften, anstatt sie zu lösen. Daher glauben die Menschen der Region nicht an eine Lösung, die dieses Trio für die Region vorgesehen hat. Die internationalen Mächte, insbesondere die Vereinten Nationen, waren den humanitären Tragödien hier vor Ort gleichgültig, zeigten nicht den Willen, den demokratischen Forderungen der Bevölkerung in Syrien gerecht zu werden, schwiegen und wurden dadurch während der Besatzung des türkischen Staates zu dessen Partnern.

In den Städten Afrin, Serêkaniyê und Gire Spî, die unter der Besatzung des türkischen Staates und seiner Banden stehen,  gab es viele Verbrechen, die vom demografischen Wandel über Assimilation bis hin zu Massakern reichen und in den Geltungsbereich des Völkerrechts fallen. Nach den von internationalen Organisationen ermittelten Daten wurde festgestellt, dass vor der Besatzung des türkischen Staates der kurdische Anteil der Bevölkerung Afrins 97 Prozent betrug, nach der Besatzung jedoch der Anteil der kurdischen Bevölkerung auf ungefähr 34,8 Prozent zurückging.  Historische Orte, Kulturstätte und Friedhöfe wurden zerstört und die meisten Kurd*innen, Armenier*innen, Suryoye und Araber*innen waren gezwungen zu fliehen und auszuwandern. Das Hab und Gut der Menschen wurde beschlagnahmt, das Lernen und Sprechen in ihrer Muttersprache verboten, Frauen und Kinder entführt, vergewaltigt und brutal ermordet. Der türkische Staat und seine Unterstützer haben durch die Besatzung und Annexion, die sie unter dem Namen „Wir werden für Frieden und Wohlfahrt sorgen” zu legitimieren versuchten, große Tragödien und Zerstörungen verursacht.

In der heutigen Zeit, in der sexualisierte Angriffe gegen Frauen auf der ganzen Welt zunehmen, ist unsere Region weiterhin von Besatzung bedroht und auch der Krieg gegen Frauen setzt sich durch jene Angriffe weiterhin fort. Krieg und Besatzung breiten sich auch durch Femizid in der gesamten Gesellschaft aus. Während in Afrin, das seit 2018 besetzt ist, Kriegsverbrechen in jeglicher Form begangen werden, sind Vergewaltigung und Mord an Frauen ebenfalls in einer immensen Vielzahl zu verzeichnen. Alle Mächte, Staaten und internationalen Organisationen, die Verstöße gegen das Völkerrecht tolerieren, sind Partner dieser Politik der Verbrechen, die insbesondere gegen Frauen begangen werden.

#WeDefendWomenAndLife

Die brutale Ermordung der Generalsekretärin der Zukunftspartei Syriens, Hevrîn Xelef (Hevrin Khalaf) am 12. Oktober 2019, sowie die Tötung der Gesundheitsbediensteten des Kurdischen Roten Halbmonds, Media Bouzan, Hafin Khalil Ibrahim und Mohamed Bouzan am 13. Oktober 2019, durch paramilitärische Kräfte des türkischen Staates, als auch die Ermordung der Kongreya-Star-Aktivistinnen Zehra Berkel, Hebûn Mele Xelîl und Amina Waysî, die am 23. Juni 2020 in Kobanê von türkischen Drohnen gezielt getötet wurden, sind Folgen dieser Verbrecherpolitik. Das Schweigen zu diesen Massakern, deren Täter bekannt sind, trägt auch zur praktischen Umsetzung der invasiven und genozidalen Pläne des türkischen Staates bei.

Wir Frauen, die unser System auf der Grundlage des kollektiven Zusammenlebens, des Wohlergehens in der Region und insbesondere des Lebens an sich verteidigen, haben nie geschwiegen gegen die Massaker, die sowohl vom IS als auch vom türkischen Staat und den von ihm unterstützten Banden durchgeführt werden. Wir haben uns in allen Bereichen gegen all jene brutalen Verbrechen und unmenschlichen Handlungen organisiert und versucht, diese Gewalttaten durch unsere Aktionen aufzudecken sowie sichtbar zu machen. Wir fordern ein weiteres Mal, dass die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden. Wir haben nie geschwiegen angesichts dessen, was passiert ist, und wir werden es auch weiterhin nicht tun. So werden wir unseren Kampf fortsetzen und weiter verstärken.  Auch wenn wir uns Frauen in verschiedenen Regionen befinden, so teilen wir doch gemeinsame Erfahrungen,  erlebte Grausamkeiten als auch Schmerz, die alle Folgen des männlich dominierten System und davon verursachten  Kriege sind. Indem wir uns gemeinsam organisieren, handeln und an allen Orten der Welt gegen den Genozid  durch den patriarchalen Faschismus gegen uns Frauen und unseren Körpern sagen „es reicht!“, können wir mit  unserer kollektiven Handlungskraft den Lauf der Zeit und der Geschichte verändern. Als Frauen können wir gegen die zerstörerischen, mörderischen und vernichtenden Handlungen des patriarchalen Geistes die Welt in einen Ort voller Schönheit verwandeln, in dem alle Menschen frei und demokratisch leben können. Wir haben die Kraft dazu, solange es uns gelingt, zusammen zu halten und gemeinsam unsere Stimmen sowie derer, deren Stimmen verborgen sind, zu erheben.

Auf Grundlage dessen erklären wir:

• Mit der Kampagne „We will defend Women and Life” - “Emê Jin û Jiyanê biparêzin”, die wir am 9. Oktober gestartet haben, werden wir unseren Kampf gegen Besatzung und Feminizid auf eine nächste Ebene heben.  In den Regionen von Rojava sowie Nord- und Ostsyriens wird Feminizid durch die Besatzer auf einer systematischen Ebene betrieben. Damit wird versucht, die Frauenrevolution auszulöschen. Wir jedoch erklären, dass wir als Frauen unseren Widerstand gegen die Besatzung entschlossen stärken werden, bis wir unser Ziel erreichen.

• Zusammen mit den Suryoye und den arabischen, armenischen, kurdischen, turkmenischen, zirkassischen und chaldäischen Bevölkerungsgruppen haben wir ein demokratisches System in der Region aufgebaut, in dem Frauen gleichermaßen vertreten sind. Außer unserer Selbstverteidigung gegenüber den Besatzungsmächten haben wir keine aggressiven und zerstörerischen Handlungen begangen. In der Überzeugung, dass unser demokratisches und partizipatives System auch eine Lösung für die politische Krise in Syrien darstellt, haben wir wiederholt von den internationalen Mächten gefordert, dass unser Status offiziell anerkannt und uns somit auch ein offizieller Status garantiert wird. Wir haben der Welt gezeigt, dass es möglich ist, die systematische  Krise, die die kapitalistische Moderne auf der ganzen Welt erfährt, sowie den durch diese Krise verursachten  Sexismus, Nationalismus und Fanatismus zu beseitigen, und mit dem Modell der demokratischen Nation ein  neues System aufzubauen. Wir hoffen, dass unser demokratisches System der Selbstverwaltung, das auf der gleichberechtigten Beteiligung und Vertretung von Frauen beruht, von unseren Schwestern auf der ganzen Welt als Errungenschaft unseres Kampfes als Frauen gesehen und angenommen sowie gemeinsam verteidigt wird.

• Der türkische Staat zielt direkt auf die Vorreiterinnen unserer Frauenrevolution. Dies tut er sowohl direkt als auch mittels seiner paramilitärischen Kräfte. Wir werden weiterhin dafür kämpfen, die mörderische Politik des zerstörerischen türkischen Staates und seiner Banden gegen unsere Vorreiterinnen zu beenden. Die patriarchale Mentalität wird in keinster Weise Erfolg haben. Wir betonen nochmals, dass wir keine Verbrechen gegen die Freiheit der Frauen ungestraft lassen werden. Wir werden bis zum Ende dafür kämpfen, dass die Verantwortlichen verurteilt und zur Rechenschaft gezogen werden. Wir rufen Frauenorganisationen und Persönlichkeiten auf der ganzen Welt dazu auf, uns zu unterstützen, unseren Stimmen Lautstärke zu verleihen und unsere Forderungen in den Ländern, in denen sich jede einzelne von uns befindet, auf die Tagesordnung zu setzen, um den Kampf, den wir führen, fortzusetzen, um die Mörder zur Rechenschaft zu ziehen und diese Verbrechen auf Ebene des Völkerrechts  verurteilt werden.

#WomenDefendRojava

• Die YPJ sind legitime Selbstverteidigungskräfte für Frauen, die gegen den IS und alle Arten von Besatzung kämpfen. Ihre Organisation gegen die brutalen Gewalttaten des IS hat weitere Massaker an Frauen verhindert und ist mit ihrem Erfolg in der Verteidigung zu einer Kraft geworden, der Frauen auf der ganzen Welt mit  Interesse, Unterstützung und Vertrauen folgen. Die Organisierung von Frauen innerhalb der YPJ und im Bereich der Selbstverteidigung hat den Frauen in der Region und der Gesellschaft großes Vertrauen geschenkt und zu großen Veränderungen in der Wahrnehmung von Frauen in der Gesellschaft geführt, die von einer männerdominierten Mentalität geprägt ist. Daher sind die YPJ eine legitime Kraft. Als Frauen aus Nord- und Ostsyrien akzeptieren wir nicht, dass unsere Frauenverteidigungseinheiten, die YPJ, von Staaten wie England, Italien und Deutschland unter Strafe gestellt werden. Wir rufen alle Frauen dazu auf, die YPJ als gemeinsame Verteidigungskraft von Frauen anzuerkennen und gegen jene staatliche Politik, die die Selbstverteidigungskräfte der Menschen und Frauen unter dem Namen von Anti-Terror-Gesetzen kriminalisieren, zu verteidigen.

Nein zur Besatzung, nein zum Genozid: Wir werden Frauen und das Leben verteidigen! Jin, jîyan, azadî!“