Der Mord an drei revolutionären Frauen aus Kurdistan wurde am 9. Januar 2013 im Zentrum von Paris in der Nähe des belebtesten Bahnhofs Gare du Nord in der Rue La Fayette Nr. 157 begangen. Die Leichen der Frauen lagen mehr als einen halben Tag im Informationszentrum Kurdistan in ihrem Blut. Nachdem Stunden ohne ein Lebenszeichen der Frauen vergangen und die Sorgen gewachsen waren, öffnete drei Personen mitten in der Nacht die Tür des Zentrums. Als sie das grauenerregende Szenario im Inneren vorfanden, war es bereits nach 1.00 Uhr. Es war nun bereits der 10. Januar. Die Leichen der drei Frauen lagen mit Kopfschüssen getötet auf dem Boden.
Das Wetter war kalt, das Thermometer zeigte drei Grad. Es sollten noch Stunden vergehen, bis die ersten Lichter des Morgens erstrahlen sollten. Doch die Rue La Fayette wurde immer voller, vollkommen ungewöhnlich für diese Uhrzeit. Die Telefone begannen zu klingeln und die Kurdinnen und Kurden in Paris, die von diesem schrecklichen Ereignis hörten, machten sich auf den Weg in die Rue La Fayette. Die erste Nachricht zum Tod der Frauen wurde um 3.00 Uhr veröffentlicht. Nun gab es keinen Zweifel mehr, bei den Ermordeten handelte es sich um Sakine Cansız (Sara), eine der PKK-Gründungspersönlichkeiten, Fidan Doğan (Rojbîn), die Pariser Vertreterin des Kurdistan Nationalkongress (KNK) und Leyla Şaylemez (Ronahî), Aktivistin der kurdischen Jugendbewegung. Seit der Tat waren nun etwa 14 Stunden vergangen. In dieser Zeit hatte sich der Tatverdächtige der Mordwaffe entledigt, aber seine Spuren nicht verwischen können. Er dachte, er habe das perfekte Verbrechen begangen. Er war auch eine der ersten Personen, die zum Tatort kamen, denn er glaubte, von niemandem verdächtigt zu werden. Um die politischen Aktivitäten der Kurden zu infiltrieren, hatte er von den bestehenden Schwachstellen profitiert und wollte diese Lücken nutzen, um noch mehr Morde zu begehen. Er war mit seinen zwei Mitbewohnern zum Tatort aufgebrochen und hatte gesagt: „Ich habe sie noch quicklebendig gesehen und bin gegangen. Ich kann das nicht glauben.“ Als die kurdischen Medien mit ihrer Live-Berichterstattung begannen, zeigte sich in den Aufnahmen die Ruhe des Mordverdächtigen. Aber es gab noch keinen Verdacht gegen ihn. Etwa 13 bis 14 Stunden nachdem Ömer Güney die Morde begangen hatte, verbreitete sich die Nachricht vom Tod der drei Revolutionärinnen um die ganze Welt.
Die kurdische Bevölkerung stand unter Schock. Diese Schockwelle breitete sich von Paris über Europa nach Russland, Afrika, Australien und bis in die Stellungen der Guerilla in den kurdischen Bergen aus. Für die Kurden war vom ersten Moment an alles klar. Welche Ergebnisse auch immer die Regierungsvertreter, die Polizei oder die Justiz verkündeten, die Täter waren bekannt. Es bestand nicht der geringste Zweifel daran, dass hinter diesen Morden der türkische Staat und seine Dienste standen. Das Massaker fand zu einer Zeit statt, in der die Gespräche zwischen dem kurdischen Repräsentanten Abdullah Öcalan und dem türkischen Staat gerade begonnen hatten.
Die Spuren, die der Mörder hinterließ, weisen nach Ankara
Der Weg des Mordverdächtigen endete am 18. Januar. Nach ersten Widersprüchen in seinen Aussagen und Erkenntnissen aus den Videoaufzeichnungen erhärtete sich der Verdacht gegen Güney. Später kamen sein versteckter Pass, seine Türkeibesuche, die Schmauchspuren an seiner Tasche, die Tonaufnahmen seiner geheimen Treffen mit dem türkischen Geheimdienst MIT in Ankara, das Geheimdokument, mit dem der MIT die Hinrichtung von Sakine Cansız anordnet, ein Komplize in Deutschland, der Fluchtplan aus dem Gefängnis und viele Zeugenaussagen hinzu. All diese Spuren verwiesen darauf, dass der Befehl für das Massaker aus Ankara kam. In der Anklageschrift wurde offen von einer Rolle des MIT bei den Morden gesprochen. Da Ankara die Zusammenarbeit bei den Ermittlungen mit den französischen Behörden verweigerte, fehlten die dahinterstehenden Strukturen in der Türkei. Diejenigen, die den Mordbefehl erteilten, konnten in der Anklageschrift nicht als Hierarchie beschrieben werden. Die französischen Geheimdienste behielten die ihnen vorliegenden Informationen für sich. Sie wurden zum Staatsgeheimnis erklärt und der Öffentlichkeit wurden nur wenige bereits bekannte Tatsachen mitgeteilt. Antoine Comte, Anwalt der Nebenklage, erklärte im März 2018 gegenüber ANF: „Das Besondere an diesem Verfahren ist, dass hier zum ersten Mal in der französischen Geschichte ein anderer Staat für eine Tat verantwortlich gemacht wird.“
Zweifelhafter Tod des Hauptverdächtigen
Der inhaftierte und einzige Mordverdächtige war Ende 2016 wenige Wochen vor Beginn des Verfahrens im Gefängnis tot aufgefunden worden. Der Prozess wurde daraufhin eingestellt. Aber die Familien der drei ermordeten Frauen widersprachen der Einstellung des Verfahrens und forderten die Ermittlung und Verurteilung der Hintermänner der Morde. Viele Menschen gingen jahrelang jede Woche für die Aufklärung der Morde auf die Straße. Unter anderem versammelten sich Kurden über Jahre jede Woche in der Rue La Fayette, um an den Mord an den drei Frauen zu erinnern. Schließlich wurde am 12. März 2018 ein neues Verfahren eingeleitet.
Im März wies Antoine Comte darauf hin, dass Vertreter des türkischen Staats in Belgien und Deutschland in den Angriffsplan verwickelt waren. Der Jurist konnte eine Verbindung zu den Hinrichtungen in Paris darstellen und erklärte: „Wir wollen einen Richter, der alle diese Faktoren untersucht.“
Sechs Jahre nach den Morden
Sechs Jahre nach den Morden warten die Familien und die Anwälte auf Entwicklungen in zwei Verfahren. In einem Verfahren geht um die Forderung nach Ermittlungen, um die Befehlsgeber für die extralegalen Hinrichtungen und das Killernetzwerk in Europa ans Licht zu bringen. In dem anderen Verfahren geht es darum, den „Fond für Opfer von Terrorismus“ auch für diese drei Frauen in Anspruch nehmen zu können.
Der Anwalt Jean-Lois Malterre erklärte gegenüber ANF, dass für beide Fälle im Jahr 2018 entsprechende Anträge gestellt wurden und eine Entwicklung zu erwarten sei. Hinsichtlich der neuen Fakten, mit denen die Forderung nach einer neuen Ermittlung begründet werden, sagte Malterre, es gehe um die Attentatspläne in Belgien und Deutschland, welche von Erdoğans Diensten organisiert worden seien. Malterre wies darauf hin, dass viele Attentatspläne in Europa vom türkischen Staat organisiert worden seien und diese „methodisch den Morden von Paris ähneln“.
Das Spionagenetzwerk in Deutschland und die Attentatspläne
In dieser Akte ist von einem noch größeren Spionagenetz und Attentatsplänen die Rede. In Deutschland gibt es Ermittlungen wegen Geheimdienstaktivitäten türkischer Dienste. In Belgien wurden wegen eines potentiellen Angriffs auf einen kurdischen Politiker Ermittlungen eingeleitet. Für Paris bedeutet das, der Prozess ist mit dem Tod des Tatverdächtigen nicht abgeschlossen, ebenso wurde auch kein Verdächtiger verurteilt. Die Fragen nach denjenigen, die die Morde befohlen, finanziert und Informationen geliefert haben, und die dahinterstehenden Organisationsnetzwerke warten noch auf ihre juristische Aufklärung.
In der Akte ist auch die Rede von verschlüsselten Telefonnummern, die Güney angerufen hat. Antoine Comte erklärte dazu, dass es sich bei diesen Nummern um Nummern von Büros des MIT handelt. Nach Angaben von Quellen, die sich mit dem Fall auseinandersetzen, ist mittlerweile bekannt, woher die Mordwaffe stammt. Die Anwälte wollen dies aber nicht näher kommentieren.
Die Aussagen der MIT-Agenten im Gewahrsam der PKK
Unter den eingereichten Dokumenten befinden sich auch Aussageprotokolle der von der PKK in Südkurdistan (Nordirak) festgenommenen MIT-Funktionäre. Diese hochrangigen Agenten wurden am 4. August 2017 bei einem Spezialeinsatz der HPG ergriffen, als sie dabei waren, ein Attentat auf die PKK-Führung in Südkurdistan vorzubereiten. Es handelt sich um die beiden MIT-Abteilungsleiter Erhan Pekçetin und Aydın Günel. Sie bekleideten zuletzt leitende Positionen in den Abteilungen für separatistische Tätigkeiten und Personalressourcen. ANF veröffentlichte sukzessiv ihre Aussagen. Beide Agenten erklärten, das Attentat von Paris sei vom MIT ausgegangen. Sie bestätigten die Echtheit eines am 14. Januar 2014 an die Öffentlichkeit gelangten Dokuments, in dem der Mord angeordnet wurde und Tonaufnahmen, die zwei Tage zuvor in den sozialen Medien veröffentlicht worden waren. Das Dokument, in dem Güney der Befehl für das Attentat erteilt wird, trägt die Unterschrift von vier Leitungspersonen des MIT. In der Tonaufnahme diskutiert Güney mit zwei MIT-Agenten seine Attentatspläne. Erhan Pekçetin und Aydın Günel bestätigen, dass Güney seine Reisen in die Türkei über ein Reisebüro des MIT erhalten habe.
Entschädigungsforderungen
Der Anwalt Malterre sagt, man habe sich mit dem anderen Verfahren an das Gericht in Créteil gewandt. Die Angehörigen der drei Frauen fordern eine Entschädigung. Der Antrag von insgesamt 27 Familienangehörigen von Sakine Cansız, Fidan Doğan und Leyla Şaylemez hängt mit dem 1986 geschaffenen „Garantiefond für Opfer terroristischer Aktionen oder anderer Verletzungen“ (FGTI) zusammen. Der FGTI vertritt den Standpunkt, dass es sich bei den drei Frauen nicht um „Opfer von Terrorismus“ handele. Im August führte die FGTI-Anwältin Hélène Fabre weitere Gründe an. Sie erklärte, es ginge um eine Auseinandersetzung in der Türkei, die keinen Einfluss auf französischem Boden in nationalem Ausmaß habe. Benoit Dietsch, Anwalt der kurdischen Familien erklärte dazu: „Ihre Argumente greifen einer abschließenden juristischen Entscheidung vor und bedeuten nichts anderes, als die Schuld bei den Opfern zu suchen.“ Dietsch wies auf die vielen Aktionen zum Jahrestag der Ermordung der drei Frauen hin und unterstrich, dass dieses Ereignis sehr wohl eine Wirkung in Frankreich entfalte.
Unter den Argumenten des FGTI findet sich auch die Behauptung, das Gericht habe aufgrund des Todes von Ömer Güney den „terroristischen Charakter“ der Morde nicht abschließend feststellen können. Außerdem wird angeführt, die drei Frauen seien Mitglieder der PKK, und diese stünde auf der Liste der Terrororganisationen.
Anwalt Malterre erklärte gegenüber ANF, die von Ömer Güney ausgeführten Morde seien ganz klar „eine terroristische Aktion“ und hielt fest, dass dies auch in der Anklageschrift steht.
Der Antrag an das FGTI ist im Februar 2018 gestellt worden. Die Entscheidung des Gerichts, wie mit den extralegalen Hinrichtungen an den Revolutionärinnen umgegangen werden soll, wird in den kommenden Monaten erwartet. Falls sie negativ ausfallen sollte, werde man in jedem Fall in Berufung gehen, kündigte Malterre an.