Ein Jahr ohne Hevrîn Xelef

Vor einem Jahr wurde Hevrîn Xelef, Hoffnungsträgerin eines vielfältigen, demokratischen Syriens, im Zuge des Angriffskrieges der Türkei gegen Rojava von Dschihadisten hingerichtet. Überall in Nord- und Ostsyrien finden Gedenkveranstaltungen statt.

Hevrîn Xelef war Generalsekretärin der von einem basisdemokratischen Initiativprinzip geleiteten syrischen Zukunftspartei (Hizbul Suri Mustakbel) und Hoffnungsträgerin eines vielfältigen, demokratischen Syriens. Vor genau einem Jahr, am 12. Oktober 2019, wurde die 34-Jährige im Zuge des Angriffskrieges der Türkei gegen Nordsyrien zusammen mit ihrem Fahrer nahe Qamişlo ermordet. Mitglieder des sogenannten „Bataillon 123” der Dschihadistenmiliz „Ahrar al-Sharqiya“, die dem Proxy-Invasionskorps SNA („Syrische Nationale Armee”) angehört, hatten Xelef aus ihrem Wagen gezerrt und ihren Körper verstümmelt, bevor sie hingerichtet wurde. Laut Obduktionsbericht wies die Leiche der Politikerin zahlreiche Verletzungen auf, darunter viele Schusswunden, Brüche an Beinen, Gesicht und Schädel. Ihre Kopfhaut war teilweise abgelöst, weil man sie an den Haaren gezerrt hatte. 

Zum ersten Todestag von Hevrîn Xelef (auch Hevrin Khalaf bzw. Khelef), fanden in nahezu allen Regionen von Nord- und Ostsyrien Gedenkveranstaltungen statt. In Tabqa waren Aktivistinnen der Zukunftspartei Syriens am Ufer des Euphrats zusammengekommen, und hatten kleine Flöße mit einer brennenden Kerze auf den Fluss gesetzt. Auch ein großes Bild mit dem Konterfei der „Jasminblüte Syriens“, wie Xelef in weiten Teilen der Gesellschaft bezeichnet wird, trieb den Euphrat hinunter. „Wir Frauen aus Tabqa versprechen unserer Vorkämpferin Hevrîn, ihre Errungenschaften zu verteidigen. Denn unsere Verbundenheit gilt ihr und ihrem Widerstand.“

Kongreya Star: In Kriegen werden zuerst Frauen angegriffen

Kongreya Star hat aus Anlass des Todestages von Hevrîn Xelef eine Erklärung abgegeben. Darin hält der Dachverband der nordostsyrischen Frauenbewegung zunächst fest, dass der am 9. Oktober 2019 vom türkischen Staat begonnene Besatzungsangriff gegen die Autonomiegebiete mit dem Ziel, das Projekt der demokratischen Nation zu vernichten, weiter anhält. Zudem hebt Kongreya Star hervor, dass es in erster Linie Frauen und Institutionen, die sich am Befreiungskampf beteiligen seien, bei genozidalen Besatzungsbestrebungen zuerst angegriffen werden. Dies sei auch bei dem tödlichen Drohnenangriff des türkischen Staates auf drei Frauen in Kobanê Ende Juni der Fall gewesen.

In der Erklärung, mit der auch an Dayê Aqîde erinnert wird, die sich am 14. Oktober 2019 als Mitglied des Frauengerechtigkeitsrates auf den Weg nach Serêkaniyê (Ras al-Ain) machte, um an einer Aktion von lebenden Schutzschilden teilzunehmen und dabei starb, als ein ziviler Konvoi von türkischen Kampfflugzeugen bombardiert wurde, kündigt der Frauendachverband an, den revolutionären Widerstand fortzusetzen. „Die Rache für Frauen, die im Kampf für soziale Gerechtigkeit und Frieden ihr Leben ließen, wird stets lebendig sein. Der Widerstand für die Verwirklichung ihrer Ziele ist zeitlos. Es gibt tausende Frauen, die dem Weg und den Träumen unserer gefallenen Freundinnen folgen werden.“

Gedenkdemonstration in Minbic

In Minbic fand in Gedenken an Hevrîn Xelef eine Demonstration statt. Viele der Teilnehmerinnen waren mit ihren Söhnen gekommen, die besonders laut riefen: „Hevrîn ist unsterblich – Die Gefallenen sind unsere Fackel der Freiheit“.

In Raqqa wurde ein nach Hevrîn Xelef benannter Garten eröffnet worden. An der Zeremonie nahmen Vertreterinnen und Vertreter aller Einrichtungen und Parteien in Raqqa teil. Das Eröffnungsband hat die Mutter von Ferhad Remedan durchgeschnitten, dem Fahrer von Xelef.

Zu einer Kundgebung in Kobanê hatte der Ortsverband der Zukunftspartei Syriens aufgerufen. Am zentralen Platz der freien Frau, auch Arîn-Mîrkan-Platz genannt, hatten sich vor allem junge Aktivistinnen und Aktivisten versammelt, und trugen Bilder mit den Konterfeis von Xelef und Remedan. Der Politiker Cîhan Xelîl würdigte den Kampf seiner Parteikollegin für ein demokratisches Syrien und kündigte eine neue Offensive gegen die Besatzungsangriffe der Türkei auf Nord- und Ostsyrien an, die zum Todestag Xelefs eingeleitet wurde.

Hevrîn Xelef - Ein Leben für die Revolution

Hevrîn Xelef, die mit ihrem Leben und Wirken eine unvergessliche Rolle in der Frauenrevolution von Rojava und in der Gemeinschaft der Völker gespielt hat, wurde 1984 in Dêrik geboren. Sie wuchs als Kind in einer gesellschaftlich und politisch engagierten Familie auf. Vier ihrer Brüder und Hevrîns Schwester Zozan schlossen sich dem Befreiungskampf an und sind in den Reihen der kurdischen Freiheitsbewegung gefallen.

Ihre Mutter Sûad Mustafa nahm an vielen Volksversammlungen von Abdullah Öcalan teil. Was sie hier lernte, hatte auch einen großen Einfluss auf die Erziehung und Persönlichkeitsentwicklung von Hevrîn. Nachdem Hevrîn ihre Schulbildung in Dêrik abgeschlossen hatte, studierte sie in Aleppo Agrarwissenschaften. Nach dem Abschluss ihres Studiums kehrte sie wieder nach Dêrik zurück. Mit dem Beginn der Revolution in Rojava beteiligte sich Hevrîn hier am Freiheitskampf und an den Arbeiten der Jugendbewegung. Kurze Zeit später begann sie mit Organisierungsarbeiten zum Aufbau zivilgesellschaftlicher Einrichtungen und übernahm leitende Funktionen im Wirtschaftsrat von Qamişlo. Mit der Ausrufung der Demokratischen Autonomieverwaltung übernahm sie als stellvertretende Ko-Vorsitzende Verantwortung im Energie-Komitee der Demokratischen Selbstverwaltung im Kanton Cizîre. Im Jahr 2015 spielte sie eine wichtige Rolle dabei, die Energieversorung und die ökonomischen Arbeiten im Kanton Cizîre zu verbessern und zu stärken.

Bei diesen Arbeiten galt ihre besondere Aufmerksamkeit den ökonomischen Bedürfnissen von Frauen und der Entwicklung der Frauenökonomie. 2018 beteiligte sich Hevrîn am Aufbau- und Gründungsprozess der Zukunftspartei Syriens mit der Zielsetzung, sich für die Belange aller Bevölkerungsgruppen Syriens und eine demokratische Erneuerung Syriens einzusetzen. Bei der Gründung der Zukunftspartei am 27. März 2018 in Raqqa übernahm sie selbstlos und engagiert die Aufgabe als Generalsekretärin. In einer Rede anlässlich des 8. Jahrestags des Volksaufstands in Syrien verlieh Hevrîn ihrer Überzeugung Nachdruck, dass sich die politische Krise in Syrien durch Krieg nicht lösen lässt. Sie sagte: „Acht Jahre sind vergangen. Die Volksaufstände gegen die Krise und der Kampf der Völker Syriens sind unter großen Opfern geführt worden und haben sich in einen Krieg verwandelt. Die andauernde Krise in Syrien, die der Grund für die Vertreibung und Ermordung der Bevölkerung ist, ist ohne eine politische Lösung nicht möglich.”

In jeder ihrer Reden betonte Hevrîn die Wichtigkeit des Dialogs unter den verschiedenen syrischen politischen Kräften und Bevölkerungsgruppen. Sie bestand darauf, dass die Völker gemeinsam ihre Zukunft selbst bestimmen, ihr politisches und soziales Leben selbst gestalten sollten. Mit ihrem politischen Kampf forderte Hevrîn alle Kreise der Gesellschaft und politische Akteure auf, sich an einer demokratische Lösung der Krise in Syrien zu beteiligen.

Mit dem Beginn des türkischen Besatzungskriegs gegen die Gebiete der Demokratischen Autonomieverwaltung in Nord- und Ostsyrien am 9. Oktober 2019 führte Hevrîn ihren politischen Kampf entschlossen fort. In einem Hinterhalt von mit der Türkei verbündeten Mitgliedern einer dschihadistischen Mörderbande wurde sie gezielt hingerichtet.