Am 3. September 2022 wurde Şilêr Resuli, eine Einwohnerin von Merîwan in Rojhilat (Ostkurdistan), zum Ziel einer versuchten Vergewaltigung durch ihren Nachbarn, den iranischen Geheimdienstmitarbeiter Goran Qadri. Der Nachbar war unter dem Vorwand, Hilfe zu benötigen, an ihre Tür gekommen. Die 36-jährige Şilêr Resuli sprang aus dem zweiten Stock des Hauses, um sich vor dem bewaffneten Vergewaltiger zu schützen. Dabei wurde sie schwer verletzt. Die Mutter von zwei Kindern erlag am 8. September 2022 ihren Verletzungen.
Der Tod von Şilêr Resuli führte zu Massenprotesten von Frauen in Merîwan und sie weiteten sich auf andere Städte Ostkurdistans aus. Die Frauen versammelten sich vor allem vor Gerichtsgebäuden und forderten ein Ende der Ignoranz und des Schweigens gegenüber den Verbrechen an Frauen. Bei den Protesten wurde die patriarchale Ausrichtung des iranischen Regimes mit der systematischen patriarchalen Gewalt in Verbindung gebracht. Für den mittlerweile festgenommenen Goran Qadri forderten die Frauen die Höchststrafe.
„Das Regime greift Frauen als Vorhut des Freiheitskampfes an“
Çimen Şine, Koordinationsmitglied der Gemeinschaft der freien Frauen Kurdistans (Komelgeha Jinên Azad a Kurdistanê ‒ KJAR), beantwortete im ANF-Interview Fragen zum Angriff auf Şilêr Resuli und dem wachsenden Frauenkampf in Ostkurdistan.
Was ist Ihrer Meinung nach der Grund für die Zunahme von Vergewaltigungsfällen in Ostkurdistan?
Das 21. Jahrhundert ist das Jahrhundert der Frauen. Als Vorreiterinnen dieses Zeitalters kämpfen die kurdischen Frauen ‒ wie auch die Frauen überall auf der Welt ‒ für eine Lösung der sich verschärfenden Probleme der Menschheit. In Kurdistan sind sie gleichzeitig die Anführerinnen des Kampfes für die Lösung der Freiheitsfrage des kurdischen Volkes, einem Volk, dem seine Identität geraubt und dessen Existenz verleugnet und zerstört wurde. Das kurdische Volk erhebt sich unter der Führung von Frauen kollektiv als Gesellschaft, organisiert sich und gewinnt durch Aktionen an Entschlossenheit und Bewusstsein. Daher hat das iranische Regime stets spezifische und systematische Gewalt gegen Frauen und ihren Freiheitskampf ausgeübt. Dabei richtet sich das Regime, wie in vielen vergleichbaren Fällen und Genoziden, insbesondere gegen die aufstrebenden Freiheitskämpfe der Frauen in Iran und Ostkurdistan.
Die Politik der Nationalstaaten richtet sich gegen das Streben von Frauen und Völkern nach Freiheit. Sie wird in verschiedenen Formen umgesetzt, um Freiheitsansprüche und Widerstände zu beseitigen. Heute ist es die Vergewaltigungsmentalität, die sich in Übergriffen auf Frauen in vielen Teilen der Welt zeigt. Diese Mentalität manifestiert sich als ein Ausdruck der patriarchalen Nichtakzeptanz von Frauen in allen Teilen Kurdistans. Der faschistische türkische Staat und das kolonialistische iranische Regime betreiben diese Politik gegen Frauen auf raffinierte und systematische Weise als Methode der Spezialkriegsführung.
Welche Botschaft sollte mit dem Vergewaltigungsangriff auf Şilêr Resuli vermittelt werden, auch in Bezug auf die Situation in allen vier Teilen Kurdistans?
Sexualisierte Gewalt, Vergewaltigungen, Übergriffe, „Selbstmorde“, Morde und verdächtigen Todesfälle kurdischer Frauen haben vor allem in Ost- und Nordkurdistan zugenommen. Sie sind keineswegs Einzelfälle, sondern werden geplant im Rahmen einer Spezialkriegspolitik umgesetzt. Es handelt sich um bewusst und systematisch durchgeführte Angriffe. Es ist ein Massenmord an Frauen und Ausdruck des Genozids. Ein großer Teil dieser Angriffe wird von Spezialeinheiten des iranischen Regimes verübt. Die Frauenmörder in Nordkurdistan sind häufig Angehörige der türkischen Besatzungsarmee. Die zunehmenden Vergewaltigungen sind das Ergebnis dieser Haltung. Die Geschehnisse in Merîwan sind ein aktuelles Beispiel dafür und zeigen deutlich die Methoden des frauenfeindlichen Spezialkriegs des Iran und des AKP/MHP-Regimes.
Der Angriff auf Şilêr Resuli richtete sich gegen alle Frauen. Sie stürzte sich von einem mehrstöckigen Gebäude, um ihren freien Körper zu retten. Şilêr Resuli zeigte, wie stark der Freiheitsgeist der Frauen in Iran und in Rojhilat ist. Das ist die Realität der unbeugsamen freien Frau, und sie ist zum Gewissen der ganzen Gesellschaft geworden. Für sie strömte die Bevölkerung von Merîwan auf die Straßen. Die Menschen in Kurdistan sind für Şilêr eingetreten. Wir wissen sehr wohl, dass das Vorgehen gegen Frauen geplante Angriffe sind. Diese Angriffe sind ein Produkt des kolonialistischen iranischen Regimes und des nationalstaatlichen Denkens, und sie sind Ausdruck der sexistischen und machtorientierten Mentalität der Mullahs, die im Iran täglich Fatwas erlassen, und der Spezialkriegsfunktionäre. Vergessen wir nicht, dass die Mullahs sagen: „Der Iran wird durch die Hände der Frauen zerstört werden.“ Und das ist nicht nur eine Einschätzung, die auf der Religion beruht.
Wie werden die KJAR und der Frauenbefreiungskampf im Allgemeinen auf solche Angriffe reagieren?
Unsere Antwort auf diesen Angriff auf den von der KJAR in Iran und Rojhilat angeführten wachsenden Frauenbefreiungskampf wird darin bestehen, Frauen in allen Bereichen der Gesellschaft zu organisieren. Das kolonialistische iranische Regime weiß sehr genau, dass Frauen die Vorhut des Freiheitskampfes in Rojhilat sind. Dieser Gedanke steht hinter den Vergewaltigungen, der Gewalt und dem Hass gegen Frauen. Solche Angriffe wie der auf Şilêr Resuli dient dazu, den Willen der Frauen zu kontrollieren, zu unterdrücken und den organisierten Kampf von Frauen zu zerschlagen.
Frauen in Rojhilat und in Iran sollen spüren, dass sie keinen einzigen Ort haben, an dem sie frei atmen können. Es ist eine Botschaft an die Frauen, „Sklavinnen“ zu bleiben. Die Idee, Frauen aufzuzeigen, dass es keinen geschützten Raum für sie gibt, ist der Vergewaltigermentalität entsprungen. Es ist ein Versuch, die Realität des 21. Jahrhunderts zurückzudrehen. Iran und Ostkurdistan werden jedoch durch ehrenhafte, mutige Frauen wie Şilêr Resuli befreit werden.
„Gesellschaft wurde in patriarchalen Spezialkriegsapparat verwandelt“
In Iran herrscht ein ausgewiesen patriarchales System. Wie hat sich der vom Regime geförderte patriarchale Terror in der letzten Zeit entwickelt?
Um eine sexistische Gesellschaft zu schaffen, wird in Iran das Phänomen der Männlichkeit verherrlicht. In einem von Unterdrückung und Gewalt geprägten Umfeld sind alle Straßen, Haushalte, Arbeitsplätze und Arbeitsstätten Orte des männlichen Terrors. Durch patriarchale Hetze und Provokationen wurde die Gesellschaft in einen Apparat der Spezialkriegsführung gegen Frauen verwandelt. Die Polizei und andere paramilitärische Kräfte nutzen die Pasdaran und Basidsch-e-Mostazafin als Mittel, um Frauen und Mädchen anzugreifen, indem sie die Gesellschaft durchdringen.
Wie in allen Teilen Kurdistans ist es eine der am weitesten verbreiteten Methoden des Spezialkriegs, Banden aufzustellen, mit denen der Wille von Frauen und Mädchen durch sexualisierte Gewalt gebrochen und ihre Kindheitsträume in Alpträume verwandelt werden. Im Iran und Ostkurdistan sind das die Basidsch-e-Mostazafin des Regimes.
Die Menschen hier sind sich der Hände bewusst, die wie in Merîwan gegen Frauen ausgestreckt werden. Die Frauen und die Völker werden diese Hände brechen. Das ist eine grundlegende Aufgaben aller würdevollen kurdischen Frauen und Männer.
Wie kann die Gesellschaft gegen das Vorgehen des Staates kämpfen, wie können Frauen ihre Selbstverteidigung organisieren?
Auch hier ist es sehr wichtig, dass Frauen im Besonderen und die Gesellschaft im Allgemeinen solche Vorfälle aufgreifen. Keine Frau darf allein gelassen werden. Alle Menschen in Ostkurdistan, Kurd:innen, Perser:innen, Araber:innen, Belutsch:innen, Azeri und alle anderen ethnischen und religiösen Identitäten werden ihre Proteste gegen den Vergewaltigerstaat und gegen sexistische Diskurse und sexualisierte Gewalt fortsetzen.
Die repressive Politik und die Frauengesetze des kolonialistischen iranischen Regimes zielen darauf ab, die Frauen zu entmachten. Gegenüber dieser patriarchalen Haltung hat die Bevölkerung in Merîwan seine Ehre und Identität verteidigt. Als Frauenbewegung von Rojhilat begrüßen wir diese Haltung.
Um die Spezialkriegspolitik des kolonialistischen iranischen Staates zu vereiteln, müssen alle Völker, insbesondere die kurdischen, persischen, belutschischen, arabischen, und aserbaidschanischen und sorani Frauen, äußerst bewusst und sensibel handeln. Der Wille der freien Frauen in Kurdistan soll zerstört werden. Ihre dynamische und demokratische Kraft soll beseitigt werden. Wir sollten wissen, dass alle Polizisten, Militärs und Beamten in Merîwan und in ganz Rojhilat heute im Rahmen dieses schmutzigen Spezialkriegsplans handeln, der sich gegen den Widerstand der Frauen, unsere Gesellschaft, unsere Werte, unsere Errungenschaften, unsere Identität, kurz gesagt, gegen die Existenz von Frauen richtet. Das dürfen wir nicht einen Moment vergessen. Aus diesem Grund sollten keine Kontakte oder Beziehungen zu solchen Personen bestehen.
Unsere Gesellschaft muss in dieser Hinsicht sehr politisch und organisiert vorgehen. Der Staat versucht, diese Realität zu verbergen und zu vertuschen. Aus diesem Grund muss die Gesellschaft ein gemeinsames Bewusstsein und eine gemeinsame Organisierung schaffen. Nur wenn jedes Viertel und jede Straße organisiert sind, wird man voneinander wissen. Die Gesellschaft wird in der Lage sein, sich selbst zu verteidigen, und das kurdische Volk wird stark genug sein, diese Spezialkriegspolitik zu vereiteln, indem es sein politisch-ideologisches Bewusstsein und seine Organisierung verstärkt. Deshalb rufen wir als Frauenbewegung in Rojhilat unser gesamtes Volk, insbesondere die kurdischen Frauen, dazu auf, in dieser Frage sensibel und wachsam zu sein, ihre Umgebung zu sensibilisieren, einzugreifen und ihre Selbstverteidigung gegen alle Arten von Angriffen zu entwickeln.
Das frauenfeindliche iranische Regime profitiert von der Zersplitterung der Frauenorganisationen. Die Errungenschaften von Frauen gelten aber für alle Frauen. Deshalb müssen alle Frauen die Errungenschaften des organisierten Kampfes verteidigen und sich zu eigen machen. Wenn die Frauen tatsächlich für diese eintreten und sie verteidigen, also wenn wir als Frauen wirklich vereint sind, sind wir stark. Es darf nicht vergessen werden, dass die frauenfeindliche Politik des Kolonialregimes für uns nur ein Leben als Objekte vorsieht. Mit sehr subtilen Maßnahmen wird versucht, uns in eine Position des Gehorsams gegenüber dem herrschenden Mann zu bringen. Das Regime will die politischen, wirtschaftlichen, ideologischen, sozialen und kulturellen Voraussetzungen dafür schaffen. Als Frauen, deren Streben nach Freiheit unerschütterlich ist, können wir dies niemals akzeptieren. Angesichts des Spezialkrieges in Rojhilat, der darauf abzielt, den Widerstand unseres Volkes zu brechen und unsere Gesellschaftlichkeit zu zerstören, und angesichts der Angriffe auf Frauen muss unser gesamtes Volk seine Selbstverteidigung in allen Lebensbereichen verstärken. Das gilt vor allem für Frauen. Selbstverteidigung wird nicht nur mit Waffen ausgeübt; Selbstverteidigung wird auch im Bewusstsein, in den Emotionen und in allen Bereichen des Lebens entwickelt. Wir rufen die iranischen Frauen und die Frauen in Rojhilat auf, sich angesichts der Angriffe des sich im Zusammenbruch befindlichen Männerregimes zu vereinen und eine gemeinsame und pluralistische Organisierung aufzubauen, um unsere Errungenschaften zu schützen. Wir sagen, Iran und Ostkurdistan werden durch die Frauen befreit werden.