Helin Ümit: Junge Frauen sollten ihr Potential erkennen
Wo junge Frauen aktiv werden, verändert sich die Gesellschaft. Helin Ümit vom Zentralkomitee der PKK appelliert an junge Frauen, ihr eigenes Potential zu erkennen und aufzuwachen.
Wo junge Frauen aktiv werden, verändert sich die Gesellschaft. Helin Ümit vom Zentralkomitee der PKK appelliert an junge Frauen, ihr eigenes Potential zu erkennen und aufzuwachen.
Helin Ümit, Mitglied des Zentralkomitees der Arbeiterpartei Kurdistan (PKK), appelliert an junge Frauen, ihr eigenes Potential zu erkennen und aktiv zu werden:
Sexismus ist die Essenz von Herrschaftsideologie
In den letzten Jahren hat es immer mehr Massaker an Frauen gegeben. Dabei nehmen vor allem die Massaker an jungen Frauen zu. Diese werden unter verschiedenen Deckmänteln verübt. Sie werden als Unfälle, Selbstmorde und ähnliches propagiert. Vor allem junge kurdische Frauen müssen folgendes begreifen: Sie stehen nicht nur vor einem Problem in ihrem Leben, sie haben ein ernsthaftes Problem mit ihrer Existenz.
Warum sind gerade junge Kurdinnen solchen Angriffen ausgesetzt? Zunächst einmal möchte ich sagen, dass Herrschaft und Sexismus identisch sind. Sie speisen sich aus der gleichen Realität. Wo es Herrschaft gibt, zeigt sich auch Sexismus. Sexismus ist die Essenz von Herrschaftsideologie. Er basiert auf Besitzdenken, dem Gefühl von Eigentum, Dominanz und Befriedigung. Beide Phänomene nähren sich gegenseitig.
Männliche Vorherrschaft und Nationalismus
Im AKP/MHP-Faschismus hat die männliche Vorherrschaft jeden Aspekt des Lebens vollständig eingenommen. Das gilt nicht nur in der Schule und am Arbeitsplatz, zu Hause und in Fernsehserien, sondern auch in diesen Telefonen, die niemand mehr weglegen kann. Sie sind auch eine Herrschaftsform. Dasselbe kann ich auch über Nationalismus und Faschismus sagen. Nationalismus ist eine Herrschaftsideologie. Was ist das Wesen von Nationalismus? Um es ganz einfach und verständlich zu formulieren: Es wird behauptet, dass ein Volk besser, überlegener, qualifizierter ist als andere und das Recht hat, andere Völker zu kontrollieren, zu versachlichen, zu benutzen und zu beherrschen. So wie die männliche Herrschaftsideologie Frauen naturgegeben als rückständig, schwach, ohnmächtig und hilflos definiert, ist der Nationalismus in ähnlicher Weise konstruiert. Nationalismus ist in gewisser Weise der Versuch, Sexismus auf Nationen anzuwenden.
Kurdinnen im türkischen Nationalstaat
Der türkische Nationalstaat zum Beispiel ist ein vollständig männliches Herrschaftssystem. Das spiegelt sich am deutlichsten in der Haltung gegenüber jungen kurdischen Frauen wider. Er will sie unter seine Kontrolle bringen, sie an sich binden und unter Aufsicht halten. Das versucht er mit allen Mitteln, von den Gefühlen bis zu den Gedanken. Das Phänomen, das Biomacht genannt wird, wird wahrscheinlich am meisten an jungen Frauen praktiziert. Auf diese Weise soll die kurdische Gesellschaft degeneriert werden. Junge Frauen werden wie Objekte behandelt, belästigt und vergewaltigt ... Ich sage das nicht nur in einem groben Sinn. Rohe Gewalt ist vielleicht nur die Spitze des Eisbergs. Ja, es schmerzt uns mehr, weil es gewalttätiger ist. Weil es eine direkte Demütigung ist. Zum Beispiel die Vergewaltigung oder Belästigung einer jungen Frau, weil sie Kurdin ist, durch entsprechend eingesetzte Militärs, Polizisten und Beamte. Damit wird versucht, junge Frauen unter Kontrolle zu bringen. Darüber hinaus wird viel mit den Gefühlen junger Frauen in Kurdistan gespielt. Mit ihren Träumen, Idealen und Bestrebungen wird sehr viel gespielt. Auf diese Weise wollen sie die jungen Frauen an sich binden.
Junge Frauen sind die Zukunft Kurdistans
An jeder jungen Frau, die in irgendeiner Weise in eine solche Falle gerät, wird eine Politik des Massakers betrieben. Einige werden körperlich, andere geistig ermordet. Einige werden einem Identitätsmassaker unterzogen. Das ist eine sehr weit verbreitete Form. Sie verfolgt den Zweck, den Genozid am kurdischen Volk zu einem Ende zu bringen. In ähnlicher Weise wird natürlich die gesamte kurdische Jugend angegriffen, nicht nur junge Frauen, aber wir wissen sehr gut, dass Frauen die Gesellschaft bedeuten. Junge Frauen bedeuten die Zukunft Kurdistans. Das weiß der Feind und auch junge Frauen sollten sich dessen bewusst sein. Wenn das Kurdentum bis heute überlebt hat, dann ist das vor allem den Frauen zu verdanken. Es sind die Frauen, die die kurdische Sprache und Kultur bis in die heutige Zeit getragen haben. Um das zu beenden, wird bei jungen Kurdinnen angesetzt. Die Methoden reichen von der physischen Auslöschung bis zu dem Versuch, eine freakige junge Weiblichkeit entstehen zu lassen. Im staatlichen Bildungssystem und an vielen weiteren Schauplätzen in Kurdistan wird eine Identifikation mit der türkischen Modernität gefördert. Es wird das Bild vermittelt, dass Kurdinnen rückständig sind und nichts erreichen können. Wenn du Kurdin bist, wirst du nicht gemocht, deine Kultur ist zurückgeblieben. Auf diese Weise wird versucht, eine Distanzierung von der kurdischen Identität herbeizuführen und junge Frauen von sich selbst zu entfremden.
Junge Frauen werden auf verschiedene Weise getötet
Junge Frauen werden auf verschiedene Weise getötet, als Objekte behandelt, versklavt und abhängig gemacht, und auf dieser Grundlage soll die kurdische Gesellschaft übernommen werden. In Kurdistan besteht ein hohes Maß an Politisierung. Ich glaube nicht, dass die jungen Frauen unbewusst sind, denn es gibt einen jahrzehntelangen Kampf von Frauen für Freiheit. Es gibt eine Frauenarmee. Viele der jungen Frauen, die mir jetzt zusehen, sind in dieser Kultur aufgewachsen. Ihre älteren Schwestern sind zur Guerilla gegangen. Sie sind mit den Geschichten von Heval Sara (Sakine Cansız) groß geworden. In dieser Hinsicht haben sie tatsächlich ein gewisses Maß an Politisierung und Bewusstsein, aber das Problem liegt darin, dass dieses Bewusstsein schwächer wird. Es besteht Unklarheit über die Realität des Feindes. Deshalb ermutige ich alle jungen Frauen zu fragen: Wer ist der Feind? Was ist der Feind? Was sind die Masken des Feindes in Kurdistan? Ich fordere sie auf, diese Masken zuallererst zu erkennen.
Wie Frauen sich befreien können
Der Anfang von allem ist das Bewusstsein. Wie man denkt, so lebt man. Der Mensch handelt nach dem, was er weiß. In diesem Sinne ist es notwendig, das System der speziellen Kriegsführung zu erkennen und zu begreifen. Ich denke, dass es in dieser Hinsicht eine Schwäche gibt. Ich spreche nicht nur von jungen Kurdinnen. Junge Frauen im Allgemeinen sollten es wirklich erkennen: Es gibt eine Vernichtungspolitik gegen sie, mit ihnen wird gespielt, ihnen wird kein Lebensraum gelassen. Sie wissen, wie sie sich befreien können. Sie wissen, wie sie sich wehren können, aber es wurde ein System der Täuschung eingerichtet.
Ich fordere alle jungen Frauen auf, aufzuwachen, denn in unserem Land herrscht Krieg. Keine junge Frau kann sagen, dass sie außerhalb dieser Realität lebt und unabhängig davon leben und lieben kann. Leider leben wir nicht in einem solchen Land. Der völkermörderische Kolonialismus hat die Realität der Macht und des Staates so brutal gemacht, dass er alle und alles zu Objekten macht, insbesondere junge Frauen. Deshalb ist ein ernsthaftes Bewusstsein notwendig. Natürlich reicht Bewusstsein nicht aus. Es ist auch notwendig, in Organisationen einzutreten, die das Bewusstsein schärfen und stärken. Junge Frauen sollten nie alleine gehen, sie sollten immer organisiert sein. Sie sollten sich selbst und ihrem eigenen Geschlecht vertrauen, sich nahe sein und gemeinsam handeln und arbeiten. Damit entsteht ein Prozess, der das Bewusstsein fördert und das Selbstvertrauen stärkt.
Alle jungen Frauen sollten wissen, dass die Welt von Frauen anders ist als in diesen Fernsehserien, in denen Frauen sich gegeneinander verschwören, aufeinander eifersüchtig sind und miteinander rivalisieren. In der Welt der Frauen herrscht Solidarität. Jede Frau ist aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen sensibler für andere Frauen. Sie sind gewissenhafter. Diese virtuellen Geschichten, die uns präsentiert werden, werden fabriziert, um uns voneinander zu trennen. Es sind Geschichten, die geschaffen wurden, damit wir uns dem männlichen Herrschaftssystem und dem Staat unterwerfen. Deshalb muss jede junge Frau ihre eigene Geschichte einfordern.
Im nächsten Schritt sollten sie sich natürlich radikalisieren. Sie sollten aktiv werden. Wo es aktive junge Frauen gibt, verändert sich die Gesellschaft. Junge Frauen sollten wissen, dass sie dieses Potenzial haben. Wir rufen alle jungen Frauen auf, nach der Philosophie von Rêber Apo zu leben.
Der Beitrag wurde für die deutsche Fassung gekürzt