Arjîn Dersim: Die AKP-Regierung setzt auf den Spezialkrieg

Arjîn Dersim vom Kommandorat der Frauenguerilla YJA Star warnt vor der Spezialkriegspolitik des türkischen Staates. Insbesondere Frauen und die Jugend befänden sich im Visier der Angriffe. Die Mittel dagegen seien Information und Organisierung.

Die Guerillakommandantin Arjîn Dersim, Mitglied im Kommandorat der Verbände freier Frauen (YJA Star), hat sich in einer Sondersendung bei Stêrk TV zum türkischen Spezialkriegskonzept in Kurdistan geäußert und eine eindringliche Aufklärung der Jugend und der Frauen gefordert. Nicht nur gegen die Guerilla, sondern auch um die Köpfe und Herzen junger Menschen und Frauen in Kurdistan tobe ein Krieg, der sich gegen die Gesellschaft als Ganzes richte. Um diesen zu bekämpfen, sei der erste und vor allem wichtigste Anlaufpunkt die Sensibilisierung und Organisierung der genannten Gesellschaftsgruppen, betonte Dersim. Ihre Mobilisierung sei eine Notwendigkeit, wenn verhindert werden soll, dass der Staat in die Herzen und Köpfe der Bevölkerung eindringt.

Die weniger sichtbaren Methoden der Aufstandsbekämpfung

Die kurdische Bewegung verwendet praktisch seit ihrer Entstehung den Begriff „Spezialkrieg“, um staatliche Methoden der sogenannten Aufstandsbekämpfung zu beschreiben, die weniger sichtbar sind. Technisch gesehen handelt es sich um eine unkonventionelle Kriegsführung, in der eine Kombination aus militärischen und politischen Mitteln einschließlich einer intensiven psychologischen Komponente steckt, wobei Gewalt in vielfältigen Formen zentral bleibt. Diese Art der Kriegsführung zielt darauf ab, Kämpfe gegen das System zu unterdrücken, Rebellierende enger ans System zu binden und so zu beeinflussen, dass sie sich dem Staat hingeben, anstatt sich der Gewalt und Unterdrückung zu widersetzen – und letztlich Bevölkerung und Befreiungsbewegung voneinander zu isolieren.


Diese Realität gehört seit Beginn des bewaffneten Kampfes der PKK Mitte der 1980er Jahre zum Alltag in Kurdistan und umfasst unter anderem die Politik der verbrannten Erde, Morde „unbekannter“ Täter, Massenfestnahmen und sexualisierte Gewalt an Frauen, wobei der Staat auch auf weit zurückreichende Erfahrungen zurückgreift. Arjîn Dersim weist in dem Kontext auf die Genozide der Türkei an den christlichen Völkern im frühen 20. Jahrhundert hin, etwa die Auslöschung der Armenier:innen und Suryoye in Ostanatolien und die darauf folgenden Massaker an Kurd:innen: „Wer die türkische Geschichte kennt, weiß, dass sie von Gemetzeln an Völkern und Gemeinschaften durchzogen ist, die der Staat für seine Existenz als bedrohlich ansieht. Diese Linie setzt sich bis heute durch das Regime von Tayyip Erdogan fort. Er setzt die Tradition fort, die nicht erst mit der Gründung der Republik Türkei ihren Auftakt fand: den Willen aller Völker, die sich ihm widersetzen, zu brechen. Die Gesellschaft ist das direkte Ziel. Der Staat begeht einen Ethnozid und hält die Menschen von einem ethisch-politischen Leben fern. Auf diese Weise sichert er seine Existenz.“

Erdogan ist der Dirigent des Spezialkriegs

Seyid Riza etwa, der geistliche Anführer des Widerstands im alevitisch-kurdischen Dersim von 1937, sei mit den Methoden der Spezialkriegsführung gefangen genommen worden, indem er unter dem Vorwand von Verhandlungen und Friedensgesprächen in einen Hinterhalt gelockt, im Schnellverfahren zum Tode verurteilt und schließlich hingerichtet wurde, erklärte die Kommandantin. „Da sich Dersim auch trotz der Ermordung seines Widerstandsanführers nicht unterwerfen ließ, griff der Staat zu seinem grausamsten Mittel und verübte ein Massaker. Alle, die nicht durch diesen Spezialkrieg ermordet wurden, wurden assimiliert und von ihrem Wesen entfremdet.“

Mit der Entwicklung der Spezialkriegsdoktrin der NATO tauchten als „Anti-Terror-Organisation“ gegründete Schattenarmeen auf der Bildfläche auf, die ihre Quelle im „Amt für spezielle Kriegsführung“ hatten und zu deren Aufgaben Morde, Anschläge, Folter, Entführungen, Pogrome und Desinformationspolitik ebenso gehörten wie Umstürze. „Nach dem Putsch vom 12. September 1980 wurden vom Staat dann Formationen wie der Gendarmerie-Geheimdienst JITEM, verschiedene Konterguerilla-Gruppierungen und die Hizbullah gegründet und im Rahmen der Spezialkriegsführung dafür eingesetzt, unsere Bewegung zu liquidieren. Seit 2002 wird dieses Konzept von der AKP-Regierung unter Erdogan orchestriert – und hauptsächlich gegen Rêber Apo [Abdullah Öcalan], die PKK und das kurdische Volk eingesetzt“, betonte Arjîn Dersim.

„Erdogan ist der Dirigent des Spezialkrieges in Kurdistan. Seine AKP wurde vor 22 Jahren mit Unterstützung der USA an die Macht gebracht, um das Greater Middle East Project zu verwirklichen. Es ist Fakt, dass die amerikanische Politik im Nahen Osten durch Erdogan realisiert wird. Erdogan weiß, dass Washington ihn so lange an der Macht halten wird, wie er die ihm zugewiesene Rolle spielt. Kein anderer hat im Lauf der Geschichte des türkischen Staates so sehr den Fokus auf die Spezialkriegsführung gelegt, wie Erdogan es seit seiner Machtergreifung tut. Die Methoden werden überall eingesetzt, und reichen von Militärgewalt, über Manipulierung der Medien bis hin zur Zersetzung von Kunst und Kultur. Erdogan führt einen vielschichtigen Krieg gegen die Gesellschaft, das Volk und unsere Bewegung und setzt dabei alle ihm zur Verfügung stehenden Mittel ein.“

„Die Medien haben vollständig ihre Unabhängigkeit verloren“

Eine wichtige Komponente der Spezialkriegsführung sind laut Arjîn Dersim die Medien. In der von Erdogan geführten Türkei sei es kaum möglich, von einer „vierten Gewalt“ zu sprechen, also von Medien, die eine unabhängige Rolle wahrnehmen. Statt den Kriegskurs zu hinterfragen, verstünden sich die meisten Medien als Hüter der Staatsinteressen. Anstelle der Forcierung einer kritischen Grundhaltung würden sie Nationalismus als zentralen Bestandteil der Identität fördern, sodass Massaker und Kriege bejubelt und nicht abgelehnt werden. „Die Medien, die unter der Kontrolle von Erdogan stehen, hetzen ganz offen für den Krieg. Sie haben ihre Unabhängigkeit vollständig verloren. Diejenigen, die versuchten, unabhängigen Journalismus zu betreiben, sitzen entweder im Gefängnis oder sind vom Regime ermordet worden. Wenn Erdogan irgendwo spricht, kann kaum ein Sender etwas anderes übertragen. Sie müssen alles ausstrahlen, was er sagt, egal welche Propaganda oder Werbung er betreibt. Auf allen Sendern dominieren die AKP, ihr Partner MHP und Erdogan das Bild.“

Faschistische Symbole in Namen von Operationen

Arjîn Dersim sprach auch über die Propaganda, die der türkische Staat durch die Namensgebung seiner Militäroperationen und Invasionen betreibt. Auch diese Bezeichnungen seien Teil der Spezialkriegsführung. So werden Angriffe gegen die Guerilla mit Begriffen wie „Kralle“ und „Klauenschloss“ oder dem Namen von Eren Bülbül – ein 15-Jähriger aus Trabzon, der 2017 nach der Entdeckung eines Unterschlupfs der Guerilla türkische Soldaten für eine Operation begleitete und bei einem Feuergefecht getötet wurde – betitelt. Dersim erklärte in diesem Zusammenhang: „Jedes Mal, wenn sie einen Angriff starten, brauchen sie ein Symbol, ein Spektakel, und sie suchen sich einen entsprechenden Namen aus. Besonders viel Propaganda für den Krieg gegen uns wird mit dem Namen Eren gemacht, und das schon seit Jahren. Dadurch wird vorgegeben, dass der Junge von uns getötet worden sei und man ihn durch die Operationen ehren wolle. In Wirklichkeit missbrauchen sie so die Gefühle der Gesellschaft. Eren wurde in dem Konflikt zwischen uns und dem türkischen Staat getötet. Bis heute ist unklar, wessen Kugel ihn traf. Zivilpersonen gehören nicht zu unseren Zielen, dennoch muss gesagt werden, dass der Junge ein Hinweisgeber war und den Soldaten eine Unterkunft der Guerilla preisgab. Er wird gewiss nicht gezielt ins Visier genommen worden sein, aber die Guerilla muss sich nun mal verteidigen, wenn sie sieht, dass ihr Schaden droht.“

„Das Regime hat den Willen der Gesellschaft unterworfen“

Arjîn Dersim kritisierte, dass sich ein Großteil der türkischen Gesellschaft dem Willen des Erdogan-Regimes unterworfen habe. Hunderte Soldaten seien allein in den letzten Wochen und Monaten im Krieg gegen die Guerilla getötet worden, aber Proteste gegen den Staat würden weiterhin ausbleiben. „Praktisch niemand, weder die Familien dieser Soldaten noch die Öffentlichkeit, fragen, was diese Personen beispielsweise in der Zap-Region verloren hatten. Schaut man sich die Häuser der getöteten Militärs an, sieht man ihre völlig verarmten Familien trotzdem sagen: ‚Es lebe Erdogan, es lebe das Vaterland‘. Wenn das Vaterland leben soll, wieso sind es dann nicht die Kinder des Spezialkriegsteams, die Söhne von Erdogan und Konsorten; Bahçeli, Soylu, Kurtulmuş, Akar, die an den Fronten sind? Die Degeneration der Gesellschaft hat ein ausgesprochen massives Niveau erreicht. Sie stört sich auch nicht daran, dass die Kinder von Erdogan in den USA mit Dollarnoten spielen.

Geblendete Gesellschaft

Jeden Tag werden Zahlen genannt, die vorgeben, die Armee habe gesiegt, und es wird behauptet, es gäbe keine Guerilla mehr. Doch niemand scheint sich die Frage zu stellen, warum der Staat das seit Jahren im Copy-Paste-Verfahren beteuert. Auf der einen Seite gibt es Lügen, Desinformation, Propaganda und Behauptungen, die Guerilla sei ausgelöscht, man habe diese oder jene Zahl an Personen neutralisiert, aber auf der anderen Seite gibt es die Leichen der Soldaten. Das wird nicht wahrgenommen, weil die Gesellschaft geblendet ist. Seit 2020 heißen die Invasionen in den Medya-Verteidigungsgebieten ‚Krallenblitz‘, ‚Klauenschwert‘ oder ‚Tigerkralle‘. Diese Namen sind Symbole des Faschismus. Sie wollten den Zap verschließen, aber sie sind selbst eingeschlossen. Sie benutzten den Namen ‚Klauenadler‘ in Gare, aber sie haben es nicht einmal zum Huhn gebracht, geschweige denn zum Adler. So sehr der Feind sich auch irgendwelche martialischen Namen gibt, alle seine Angriffe sind und werden vergeblich sein.“

„Man wollte Rêber Apo genauso hinrichten wie Şêx Said“

Arjîn Dersim erinnerte daran, dass der 9. Oktober, der Tag, an dem 1998 das internationale Komplott, das zur Verschleppung und Isolation von Abdullah Öcalan führte, begann, auch der Tag der Ermordung von Ernesto „Che“ Guevara in Bolivien war. Dersim sieht darin ein Symbol und führte aus: „Sie wählten den 9. Oktober vor allem deshalb, weil Che Guevara für uns von großer symbolischer Bedeutung ist. Che starb an einem 9. Oktober, und sie wollten Rêber Apo an diesem Datum gefangen nehmen. Das Komplott vom 15. Februar 1999 war der entscheidende Tag für den Vernichtungsangriff auf das kurdische Volk. Denn 74 Jahre zuvor hatte sich Şêx Seîdê Pîran erhoben. Es war eine Botschaft, die man damit dem kurdischen Volk übermitteln wollte. Man wollte Rêber Apo genauso hinrichten, wie man Şêx Seîdê Pîran und seine Freunde nach der Zerschlagung ihres Widerstands hingerichtet hatte. Doch Rêber Apo vereitelte sowohl das Komplott als auch die weiteren Pläne und die Politik der Kräfte dahinter.

In letzter Zeit findet vor allem auch gegen Rojava eine Spezialkriegspolitik statt. Um die Rojava-Revolution zu liquidieren oder auszuhöhlen, wurden verschiedene Verbrecherbanden nach Rojava gebracht. Dahinter stecken die AKP/MHP-Regierung und Erdogan. Das ist bewiesen und dokumentiert. Aber als Ergebnis des von den YPG und YPJ angeführten Widerstands wurde der IS besiegt und unser Volk in Rojava rief die Demokratische Autonomie aus. Die Gesellschaft ist nun selbstverwaltet. Das ist es, was Erdogan und der türkische Staat nicht ertragen können. Deshalb betreibt er über den ENKS eine schmutzige Politik und organisiert Söldnergruppen und MIT-Agenten in Rojava. Der türkische Staat stellt eine permanente Bedrohung für die Menschen in Rojava dar. Es wurden drei kurdische Großstädte besetzt und dort Söldnergruppen angesiedelt. Doch damit findet sich Erdogan nicht ab. Er droht nahezu jeden Tag mit einem weiteren Einmarsch in der Region.

„Erdogan vergießt Krokodilstränen über Gaza, während er Bomben auf Rojava regnen lässt“

Rojava wird permanent sowohl aus der Luft als auch vom Boden aus angegriffen. Bei den jüngsten Angriffen wurden vor allem zivile Siedlungen, Krankenhäuser, die Stromversorgung, Gas- und Wasserspeicher, Getreidesilos, Orte der Nahrungsverteilung und Kulturzentren bombardiert. Die ganze Gesellschaft soll durch Hunger und Durst von der Türkei abhängig gemacht werden. Auf diese Weise soll ganz Rojava besetzt werden. Unser Volk wird sein Land trotz aller Angriffe nicht aufgeben. Auf der einen Seite vergießt Erdogan Krokodilstränen über den israelisch-palästinensischen Krieg und macht damit Propaganda, auf der anderen Seite lässt er Bomben auf die Menschen in Rojava regnen und setzt chemische Waffen gegen die Guerilla ein. Erdogan hat nichts mit dem Islam zu tun. Die Gesellschaft muss jetzt sein wahres Gesicht sehen. Er ist derjenige, der die Hamas aufstachelt und den Krieg für seine eigenen Interessen nutzt. Die kurdische Gesellschaft hat die Wahrheit über Erdogan sehr genau verstanden.

„Insbesondere Frauen und Jugend befinden sich im Visier der Spezialkriegspolitik“

Rêber Apo hat die Methoden der Spezialkriegsführung des türkischen Staates sehr klar ans Licht gebracht. Er ist es, der am meisten gegen diesen Staat und das AKP-Regime gekämpft hat, daher kennt er die Methoden der Spezialkriegsführung genau. Diese Methoden wurden von Rêber Apo, unserer Bewegung und unserem Volk bis zu einem gewissen Grad vereitelt. Sie richten sich vor allem gegen die Frauen und die Jugend. Von Drogenkonsum, Prostitution, Femizid bis hin zur Straflosigkeit von Tätern; mit diesen Mitteln sollen Frauen und junge Menschen korrumpiert werden.

Um die Spezialkriegspolitik vollständig zu beseitigen, muss vor allem die Jugend aufgeklärt und sensibilisiert werden. Es sollte niemanden in der Gesellschaft geben, der nicht organisiert ist: alle sollten sich selbst kennen und keine Komplizenschaft mit dem türkischen Staat und seiner Spezialkriegspolitik eingehen. Auf dieser Grundlage müssen die Kinder und die Jugend aufgeklärt werden und sich organisieren.“