Karayılan: Intervention der NATO machte radikale Umstrukturierung nötig

Im dritten Teil seines Interviews zum Gründungstag der PKK spricht der Oberkommandierende des zentralen Hauptquartierts der HPG, Murat Karayılan, über die Entwicklung von der Guerilla der 1990er Jahre hin zur Guerilla der demokratischen Moderne.

In der Interviewserie zum 45. Jahrestag der Gründung der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) sprach Murat Karayılan, Oberkommandierender des zentralen Hauptquartiers der Volksverteidigungskräfte (NPG) und Mitglied des Exekutivrats der PKK, über die Geschichte des kurdischen Freiheitskampfes. Im dritten Teil geht er auf die Entwicklungen in der Guerilla zwischen 1999 und 2017 ein. Die Guerilla hatte die türkische Armee 2015 – in jenem Jahr beendete Ankara einseitig den Dialogprozess mit Abdullah Öcalan und setzte wieder auf den totalen Krieg gegen die Kurdinnen und Kurden – erneut in ein Patt gedrängt. Daraufhin trat die NATO wieder in den Vordergrund und rüstete den Bündnispartner mit Drohnen und Kampfhubschraubern hoch, um das Verhältnis zugunsten des türkischen Faschismus zu kippen. Das machte eine weitere und vor allem radikalere Neustrukturierung der Guerilla notwendig.

Sie haben die Situation der Guerilla zur Zeit des internationalen Komplotts beschrieben. Zu welchen Erneuerungen haben die von Ihnen angesprochenen Entwicklungen geführt?

Mit der Verschleppung von Rêber Apo [Abdullah Öcalan] im internationalen Komplott und dem Beginn seines tiefgreifenden Arbeitsprozesses auf Imrali begann ein deutlicher Veränderungsprozess in der Guerilla. Vor allem nach dem Qendîl-Krieg wurden sowohl die Ziele der feindlichen Kräfte als auch die Lage unserer Strukturen deutlich, und die Tatsache, dass sich die Guerilla regenerieren und erneuern musste, trat in den Vordergrund. Auf dieser Grundlage fand die erste HPG-Konferenz im Jahr 2001 statt. Auf der Konferenz und vor allem durch die Verteidigungsschriften von Rêber Apo an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wurde die Entscheidung der Guerilla zu einer Neustrukturierung bekräftigt, aber auch gleichzeitig das Bestreben zur Herausbildung einer starken ideologischen Basis bestärkt.

„Neustrukturierungsprozesse wurden immer wieder als Restaurierung betrachtet“

Zwischen 2001 und 2013 haben die HPG drei Neustrukturierungsprojekte beschlossen und umgesetzt. Diese Neustrukturierungen wurden jedoch meist als Restaurierung verstanden, um den aktuellen Bedürfnissen gerecht zu werden. Es kann nicht davon gesprochen werden, dass diese Umstrukturierungen einen radikalen Wandel bewirkten. Zwar wurden Maßnahmen wie eine bessere Beherrschung der Waffen, ein gewisser Grad an Spezialisierung und die Beherrschung von Taktiken wie Sabotage, Attentate usw. entwickelt und umgesetzt, aber eine radikale Veränderung war damit nicht verbunden. Ohne Zweifel hat das dazu geführt, dass man die Angriffe auf einem gewissen Niveau praktisch erwidern konnte. Tatsächlich war die türkische Armee im Jahr 2012 von der Guerilla in die Defensive gedrängt worden. Theoretisch war sie sogar besiegt. Denn sie konnte in viele Gebiete [in Nordkurdistan] nicht mehr vordringen. In Oramar gab es zum Beispiel eine Armee in Regimentsstärke, aber der Innenminister konnte nicht einmal mit dem Hubschrauber dorthin gelangen. Er konnte gerade so sein Leben retten. Denn das Gebiet befand sich unter der Kontrolle und Belagerung der Guerilla. Der türkische Staat konnte also nicht einfach kommen und gehen. Er konnte auch viele andere Gebiete nicht mehr betreten.

„Der türkische Staat nutzte die Phase der Gespräche, um den Krieg vorzubereiten“

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass in Nordkurdistan befreite Gebiete unter Guerillakontrolle entstanden waren. Vielleicht wurde dies nicht offiziell erklärt, aber solche Gebiete haben sich gebildet. Diese Tatsache zeigt deutlich, in welcher verzweifelten Lage sich die Armee befand und dass sie eigentlich bereits verloren hatte.

In dieser Phase reagierte die AKP-Regierung positiv auf einen von Rêber Apo in guter Absicht geschriebenen Brief. Daher wurde auf der Grundlage des Briefes von Rêber Apo ein Waffenstillstand eingeleitet, nach dem Motto: „Seht her, ihr seid blockiert, ihr könnt uns nicht vernichten, eine demokratische Lösung ist im Interesse aller.“ Der türkische Staat und die AKP-Regierung betrachteten diesen Prozess jedoch als ein Ablenkungsmanöver, um Zeit zu gewinnen und einen neuen Krieg vorzubereiten. Was das Regime als Lösungsprozess bezeichnete, diente in Wirklichkeit als Projekt für den Spezialkrieg. Zum einen gab es Gespräche auf Imrali, an denen auch HDP-Delegationen teilnahmen, zum anderen begann ein vorbereitender Prozess der Umstrukturierung in der Armee. Man hatte beschlossen, spezialisierte Söldner zu organisieren, das war aber nicht gelungen. Aufgrund des Krieges gab es kaum Söldner, die sich anwerben ließen. Während des angeblichen Lösungsprozesses wurde die Organisierung solcher Elemente beschleunigt, so dass nun neue Truppen von Berufssoldaten aufgestellt werden konnten.

Andererseits wurde der Bau von massiv befestigten Militärstützpunkten und Festungen [tr. „Kalekol“: zur Festung ausgebaute Gendarmeriestation, Anm. d. Red.] vorangetrieben. Die Armee ging an Orte, an die sie vorher nicht gelangen konnten, und baute diese Festungen. Außerdem versuchte das Regime, seine Kontrolle und seinen Geheimdienst zu stärken. In dieser Phase gab es eine gewisse scheinbare Liberalisierung und damit kamen viele klandestine Strukturen an die Oberfläche und der Geheimdienst konnte in diese Strukturen eindringen.

„MIT, IS und andere Söldnertruppen wurden gegen Revolution von Rojava eingesetzt“

Vor allem aber hat die AKP in dem Krieg, der sich in Kobanê entwickelte, Partei ergriffen. Um die Revolution von Rojava zu unterdrücken, verbündete sich der MIT mit allen syrischen Gruppierungen – vom IS bis al-Nusra – und trieb sie alle gegen die revolutionären Kräfte von Rojava.

Mitte 2013 wurde diese Angriffswelle mit dem Angriff auf Serêkaniyê eingeleitet. Nach sechsmonatigen Kämpfen wurden sie dort von den Kräften der YPG und YPJ geschlagen. Anschließend wurde der IS eingesetzt. Die Türkei und ihre übrigen Söldnergruppen zogen sich zurück und überließen dem IS den Platz. Als man erkannte, dass der IS beim Angriff auf Kobanê scheitern würde, wurde damals der Niederwerfungsplan gegen die Menschen in Kurdistan und ihre Freiheitsbewegung ins Werk gesetzt. Wie sich später herausstellte, wurde dieser Plan von dem Leiter der Delegation, die die Imrali-Gespräche führte, verfasst. Mit anderen Worten, dieser Dialogprozess war, wie immer wieder in der Geschichte ein völlig heuchlerischer Versuch, das kurdische Volk abzulenken und zu täuschen. Tatsächlich war der Dialog inzwischen abgeschlossen gewesen und die Delegationen hatten sich auf einen bestimmten Konsens geeinigt; dies war am 28. Februar 2015 im Dolmabahçe-Palast offiziell bekannt gegeben worden. Obwohl Tayyip Erdoğan direkt involviert war, so dass er sich sogar in die Sitzordnung der Delegationen einmischte, die diese Ankündigung gemacht hatte, warf er kurz darauf den Verhandlungstisch mit den Worten „Mir ist eine solche Vereinbarung nicht bekannt“ um. Am 24. Juli 2015 wurde dann offiziell der umfassende Vernichtungskrieg gegen unsere Bewegung ausgerufen.

„NATO intervenierte zu Gunsten des türkischen Faschismus“

In den ersten beiden Jahren dieses Krieges herrschte ein gewisses Gleichgewicht zwischen den Kräften. Trotz der Massenmorde während des Widerstands in den Städten an Orten wie Cizîr und anderen, gab es eine Art Balance zwischen den Kriegsparteien. Die NATO wollte jedoch nicht, dass die türkische Armee von der kurdischen Freiheitsguerilla besiegt wird. Eine solche Politik wurde von Anfang an verfolgt. Als die NATO begriff, dass die türkische Armee erneut unter Druck geriet, befähigte die NATO/Gladio den türkischen Staat, Killerdrohnen zu montieren. Auch ließ die NATO sie Kampfhubschrauber bauen, deren Motoren aus den USA geliefert wurden. So zielte die NATO darauf ab, die Waagschalen zugunsten der türkischen Armee zu bewegen, indem sie dem Staat diese beiden entscheidendsten Mittel der Kriegsführung, um effektiv gegen die Guerilla zu sein, zur Verfügung stellte. Im Jahr 2017 gab es daher einerseits sehr massiven Widerstand aber auch viele Gefallene. In dieser Zeit wurde jedoch deutlich, dass die Neustrukturierung und der Wandel, den die Guerilla bis zu diesem Tag entwickelt hatte, nicht ausreichend waren. Auf dieser Basis wurde ein wesentlich radikaleres Neustrukturierungsprojekt und eine neue Kriegsdoktrin entwickelt.

Die Interview-Serie mit Murat Karayılan wird fortgesetzt

Teil 1:


Teil 2: