Im Prozess um den versuchten Mord an Meryem S. und ihren beiden Kindern hat das Hamburger Landgericht gegen den Täter Kalender Erdoğan eine lebenslange Haftstrafe verhängt. Der 50-Jährige wurde wegen Mordversuchs in Tateinheit mit gefährlicher und schwerer Körperverletzung sowie schwerer Brandstiftung schuldig gesprochen. Frauenrechtsaktivistinnen begrüßten die Entscheidung, kritisierten aber auch, dass das Gericht 35 Sitzungstage brauchte, um über die Straftaten des Angeklagten zu verhandeln. Vor der Urteilsverkündung versammelten sich ab dem frühen Morgen etwa 30 Menschen vor dem Strafjustizgebäude am Sievekingplatz, um ihre Solidarität und Unterstützung mit Meryem S. und ihren Kindern auf die Straße und in den Gerichtsaal zu tragen. Begleitet wurden sie von mehreren Kameras und Journalist:innen.
Mit Rasiermesser verletzt, dann angezündet
Ein Jahr und drei Tage ist es her, dass Meryem S. in ihrer Wohnung in Hamburg-Lurup von ihrem Ex-Mann mit einem Rasiermesser angegriffen wurde. Zuvor hatte die damals 40-Jährige erklärt, dass die Trennung von ihm endgültig sei. Als der damals zehnjährige Sohn der Mutter zu Hilfe kam, übergoss Kalender Erdoğan die beiden und die zwölfjährige Tochter mit Benzin. Dann zündete er die Frau und den Sohn an. Auch sich selbst setzte er mit Benzin in Brand. Die Tochter konnte auf den Balkon der Wohnung flüchten und Hilfe rufen.
Tod der Familie nur durch „ärztliche Kunst“ verhindert worden
Bei der Urteilsverkündung erklärte der Richter, dass die Tat als „geplant, vorbereitet und gezielt umgesetzt“ und der Täter als „voll schuldfähig“ eingestuft worden ist. Eine Affekthandlung wurde ausgeschlossen, da Kalender Erdoğan im Vorfeld der Tat bei Arbeitskollegen nachgefragt hatte, wo Messer und Benzin gut erhältlich seien. Eine Strafmilderung sei daher nicht möglich, der Mann habe „aus eigensüchtigem Motiv“ der Familie „unendliches Leid“ zugefügt. „Er wusste und hat billigend in Kauf genommen, dass es zum Tode führen kann [...]“. Dieser sei nur durch „ärztliche Kunst“ verhindert worden, so das Gericht.
Täter macht Meryem S. verantwortlich
In der Einlassung des Täters ist zu erkennen, dass er sich seiner Eigenverantwortung für die Tat nicht bewusst ist und seine Ex-Frau für alles verantwortlich macht. Der Mann verharmlost seine Tat und wollte sie als fahrlässige Körperverletzung auslegen. Er hätte sie nur verletzen wollen, um zu zeigen, wie sie ihn verletzt habe. Dass der Messerangriff auf Hals, Schulter, und Rücken nur knapp und durch Glück die Halsschlagader von Meryem S. verfehlte, und jegliche Hilferufe und Bitten von der Tat abzulassen, vom Täter erbarmungslos ignoriert wurden, spricht für sich. Doch anders als von der Staatsanwaltschaft gefordert, stellte das Gericht nicht die besondere Schwere der Schuld fest. Mit der Begründung, der Täter sei – wenn auch eigenverschuldet, selbst sein Leben lang von der Tat und den täglichen Schmerzen gezeichnet. Somit wurde verkündet, dass: „der Angeklagte schwere Schuld auf sich geladen hat“. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.
Klare Forderung: Femizide benennen
Zum Ende der solidarischen Prozessbegleitung wurde im Namen des Unterstüzer:innenkreises für Meryem ein Statement abgegeben. Darin wurde unter anderem auch die Forderung laut, Femizide als solche zu benennen: „Zwar wurde in der Urteilsverkündung benannt, dass es nicht bei der Tat alleine bleibt, sondern diese auch lebenslange Folgen hat, körperlich wie psychisch. Auch wurde von ‚Besitzansprüchen’ geredet und davon, wie herzlos diese Tat gewesen sei. Dennoch ist an dieser Stelle erneut wichtig zu benennen, dass das strukturell verankerte patriarchale Herrschaftssystem und die geschlechtsbezogene Dimension nicht als solches in der Urteilsverkündung benannt wurde. Die Forderung, dass Deutschland eine klare Stellung im Bezug auf geschlechtsbezogene Gewalt einnehmen und Femizide anerkennen muss, ist also nach wie vor mit Nachdruck klar zu bennen. Sowie die Verantwortung, die eine ganze Gesellschaft trägt, damit Femizide nicht zum Alltag gehören. Meryem S. und ihren Kindern ist zu wünschen, dass sie auch in Zukunft viel Unterstützung erfahren werden und vor allem, dass es dabei nach einem Täter zentrierten Verfahren und vor allem um sie und ihre Kinder gehen wird.”