Seit Mitte November läuft der Prozess gegen Erdogan K., der am 1. Mai 2020 in Hamburg seine Exfrau und seine Kinder brutal mit einem Messer angegriffen und angezündet hat. Sie überlebten schwer verletzt. Erdogan K. ist wegen dreifachen versuchten Mordes angeklagt. Meyrem S. und ihre Kinder treten als Nebenkläger auf. Am Mittwoch soll um 12.45 Uhr eine Kundgebung unter dem Motto „Wir lassen Meyrem nicht allein“ vor dem Gerichtsgebäude am Sievekingplatz stattfinden.
Cansu Özdemir, Fraktionsvorsitzende und frauenpolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE in der Hamburgischen Bürgerschaft, beobachtet den Prozess. Im ANF-Interview hat sie sich zum Prozessverlauf und den Problemen beim Umgang mit geschlechtsspezifischer Gewalt in der Gesellschaft, den Medien und der Justiz geäußert.
Frau Özdemir, Sie arbeiten schon lange zum Thema geschlechtsspezifischer Gewalt und explizit Feminiziden – der Tötung von Frauen aufgrund ihres Geschlechts. Wie ist die Situation in Deutschland und Hamburg?
In Deutschland gibt es jeden Tag einen Tötungsversuch an einer Frau. Jeden dritten Tag gelingt dieser. Durchschnittlich eine Frau wird täglich Opfer eines versuchten oder vollendeten Tötungsdelikts. Von 2012 bis 2017 wurden laut Polizeilicher Kriminalstatistik (PKS) insgesamt 849 Frauen in (Ex-)Partnerschaften getötet. Es gab 1212 versuchte Tötungen von Frauen in (Ex-)Partnerschaften. Die Täter sind oft Partner, Expartner oder Familienangehörige.
Nach wie vor gibt es keine aussagekräftige statistische Erfassung von Femiziden. Die Tatmotivation, also die Frage, ob eine Frau getötet wird, weil sie eine Frau ist, wird in der PKS nicht erfasst. Für die Erfassung des Geschlechts sieht die PKS bisher lediglich eine Unterscheidung zwischen männlich und weiblich vor. Die Zahlen und der Umgang mit Femiziden machen deutlich: Wir haben ein erhebliches Problem mit patriarchaler Gewalt in der bundesdeutschen Gesellschaft.
Was sind Ihre Forderungen zu diesem Thema?
Erst einmal sind Bezeichnungen der Taten wie „Individuelle Einzelschicksale“, „Familientragödie“ oder „Ehrenmord“ fehl am Platz. Solche Begriffe implizieren eine Mitschuld von Frauen und relativieren so patriarchale Gewalt. Die Auseinandersetzung und Anerkennung des Begriffs Feminizid, genauer gesagt die Anerkennung geschlechtsspezifischer Aspekte, wäre ein erster richtiger Schritt. In Deutschland gibt es trotz der hohen Anzahl an Fällen keine Erfassung. Deshalb fordern wir die Einrichtung einer unabhängigen „Femicide Watch“-Beobachtungsstelle, die jegliche Tötung, jeglichen tödlichen Unfall und vermeintlichen Suizid einer Frau in Deutschland erfasst, die Daten tagesaktuell veröffentlicht, jährlich einen Lagebericht zu „Femiziden in Deutschland“ erstellt und umfassend Forschung zu Femiziden, den Ursachen und der Bedeutung von Risikofaktoren betreibt. Auch Nichtregierungsorganisationen fordern seit Jahren aussagekräftige Statistiken zu geschlechtsspezifischen Tötungen von Frauen in (Ex-)Partnerschaften. Bis heute existiert jedoch keine bundesweite Statistik, die den Beziehungshintergrund zwischen Opfer und Täter aussagekräftig erfasst.
Eigentlich ist die Gesetzgebung in ihrem Handeln rechtlich an die Istanbul-Konvention gebunden. Jedoch scheitert es immer wieder an der Umsetzung bereits festgelegter Richtlinien. Vor allem Frauen, die in besonderen Abhängigkeitsverhältnissen stehen und keinen Zugang zum Hilfesystem haben, sind von patriarchaler Gewalt betroffen. Trotz vieler guter Regelungen und Praktiken gegen geschlechtsspezifische Gewalt besteht in Deutschland noch erheblicher Handlungsbedarf zur Umsetzung der Vorgaben aus der Istanbul-Konvention. Wir fordern daher die Umsetzung von Artikel 12 (5), 42 (1) und 46 (a) unter Prüfung einer strafverschärfenden Berücksichtigung als Mordmerkmal der niedrigen Beweggründe.
Unabhängig von den Forderungen an die Politik und die staatlichen Institutionen braucht es den gesellschaftlichen Druck. Es ist wichtig, starke feministische Bündnisse zu haben, die immer wieder mit Aktionen, mit außerparlamentarischer politischer Arbeit, Druck ausüben. Es braucht eine starke Organisierung und Mobilisierung, um die Opfer zu unterstützen und auf geschlechtsspezifische Gewalt aufmerksam zu machen.
Was ist Ihrer Meinung das Problem bei den Prozessen im Zusammenhang mit Feminiziden und Feminizidversuchen?
Trennungstötungen werden oft nicht als Mord eingestuft, also als Tat aus niedrigen Beweggründen, sondern als Totschlag. Es gibt ein Urteil des Bundesgerichtshofs aus dem Jahr 2008. Darin wurde entschieden, dass das Mordmerkmal der niedrigen Beweggründe in Zweifel stünde, wenn „die Trennung von dem Tatopfer ausgeht und der Angeklagte durch die Tat sich dessen beraubt, was er eigentlich nicht verlieren will". Dann soll kein Mord, sondern nur ein Totschlag vorliegen. Diese Entscheidung spiegelt patriarchale Gedankenmuster wider. Denn es ist eine patriarchale Besitzkonstruktion, wenn davon ausgegangen wird, dass der Angeklagte sich dessen beraubt sieht, was er eigentlich nicht verlieren will. Wenn etwas geraubt wird, muss man es zunächst besessen haben. Der Deutsche Juristinnenbund (djb) fordert unter anderem die Fortbildung im Bereich der Justiz. Dazu gehören die Aufklärung über Sex- und Vergewaltigungsmythen und insbesondere die Fortbildung der Polizei, da sie oft die erste Institution ist, die mit dem Opfer in Kontakt kommt. Mehr Frauen bei der Polizei wird als Kompetenz gesehen, was jedoch nicht zwingend der Fall ist, da Rollenbilder nicht automatisch reflektiert werden.
Hatten Sie die Möglichkeit, mit der Anwältin und der Betroffenen zu sprechen?
Ich habe mit den nächsten Familienangehörigen gesprochen. Sie wünschen sich eine gerechte Strafe für den Täter. Der Prozess läuft noch und ein Urteil wurde noch nicht gefällt. Aber schon jetzt haben die Opfer und die Angehörigen große Angst davor, dass er freigelassen wird und ihnen etwas antun könnte. Sie wünschen sich Unterstützung und eine Berichterstattung über den Prozess und hoffen auf eine Beteiligung durch solidarische Frauen während der Verhandlungen und der Kundgebungen.
Sie haben am Montag den Prozess beobachtet. Wie ist Ihr Eindruck davon?
Es war schwer zu ertragen. Meyrem hat ausgesagt und den Tatvorgang geschildert. Sie wurde per Video dazu geschaltet und hat den Sitzungssaal aufgrund der psychischen Belastung nicht betreten. Sie berichtete, dass der Schweregrad ihrer Verbrennungen bei 35 Prozent liegt und der ihres Sohnes bei 26 Prozent. Sie ist immer wieder hyperventiliert und brauchte Pausen. Sie schilderte, wie der Täter ihren Kopf zwischen seine Beine nahm und auf sie einstach. Wie er erst ihren gemeinsamen Sohn und dann sie anzündete. Meyrem versuchte schwerverletzt, ihre Kinder zu retten. Trotz dieser traumatischen und brutalen Erfahrung war Meyrem stark und sagte, dass sie heute für ihre Kinder da ist und kämpft. Währenddessen saß der Täter regungslos im Sitzungssaal und guckte auch nicht auf den Monitor. Es war die erste Sitzung, bei der Meyrem aussagte, weitere Verhandlungen folgen.