„Gerechtigkeit für Nagihan Akarsel“: Offener Brief an UN übergeben

Vor einem Jahr wurde die kurdische Jineolojî-Forscherin Nagihan Akarsel im Auftrag des türkischen Staates in Silêmanî ermordet. Auf eine juristische Aufarbeitung muss die Öffentlichkeit aber weiter warten. Ein offener Brief fordert die UN zum Handeln auf.

Eine internationale Frauendelegation ist am Montag in Genf mit einem Vertreter des UN-Sonderberichterstatters zu extralegalen, summarischen und willkürlichen Hinrichtungen zusammengetroffen, um einen offenen Brief zum Fall der Kurdin Nagihan Akarsel zu überreichen. Die Journalistin, Akademikerin und Jineolojî-Forscherin ist vor einem Jahr bei einem Attentat des türkischen Geheimdienstes MIT in der südkurdischen Metropole Silêmanî ermordet worden. Bis heute sind weder der Attentäter noch die Drahtzieher zur Verantwortung gezogen worden, obwohl selbst der türkische Botschafter im Irak, Ali Riza Güney, die Täterschaft seiner Staatsführung bei der Ermordung von Akarsel vor Medien eingeräumt hatte. Der mutmaßliche Todesschütze versuchte unmittelbar nach der Tat, sich nach Hewlêr (Erbil) abzusetzen, der Hauptstadt der Kurdistan-Region Irak (KRI), wurde jedoch von der Polizei Silêmanî (Sulaimaniyya) gefasst. Vor Gericht gestellt wurde er bisher aber nicht.

Der offene Brief, der von mehr als 300 Frauen und Organisationen aus über fünfzig Ländern unterzeichnet wurde, fordert die Vereinten Nationen auf, den Mord an Akarsel aufzuklären und für Gerechtigkeit zu sorgen – auch für alle anderen Menschen, die Opfer extralegaler Hinrichtungen geworden sind. Übergeben wurde der Appell von einer Delegation, der Mitglieder der Kurdischen Frauenbewegung in Europa (TJK-E), der Jineolojî-Akademie und der Initiative „Gerechtigkeit für Nagihan Akarsel“ angehören.


Dabei handelt es sich um die Ko-Vorsitzende der Danielle-Mitterand-Stiftung, Agnès Golfier, die Vertreterin des Brüsseler Jineolojî-Zentrums, Sarah Marcha, sowie die Aktivistinnen Sultan Şafak und Özlem Öztürk vom Kurdischen Frauenverband in der Schweiz (YJK-S). Die Delegation teilte mit, dass das Schreiben auch an UN-Generalsekretär António Guterres, den Präsidenten des Europäischen Rates, Charles Michel, und an den irakischen Premierminister Mohammed Schia al-Sudani übergeben werden soll. In dem offenen Brief heißt es:

Aufruf zur Beendigung der Straflosigkeit im Zusammenhang mit der extralegalen Tötung von Nagihan Akarsel und aller Verbrechen des Feminizids

„Vor einem Jahr, am 4. Oktober 2022, wurde die kurdische Journalistin, Akademikerin und Frauenrechtlerin Nagihan Akarsel ermordet, als sie ihr Haus im Stadtteil Bakhtiary im Stadtzentrum von Sulaymaniyah in Südkurdistan / Irak verließ. Seitdem halten unsere Trauer und unsere Suche nach Gerechtigkeit an. Bislang wurden weder rechtliche noch politische Maßnahmen ergriffen, um Nagihan Akarsel Gerechtigkeit widerfahren zu lassen oder weitere politische Morde zu verhindern. Wir rufen die internationale Gemeinschaft auf, gemeinsam mit Menschenrechtsverteidigern, Journalisten, Künstlern und Frauenorganisationen aus allen Regionen Kurdistans und der ganzen Welt, dringend zu handeln.

Einen Tag nach der Ermordung von Nagihan Akarsel gab die Polizei von Sulaimaniyya öffentlich bekannt, dass sie die Urheber des Attentats festgenommen habe. Berichten zufolge waren sie auf der Flucht in Richtung Erbil und wurden dank intensiver Ermittlungen und der Zusammenarbeit zwischen den Sicherheitskräften von Erbil und Koye kurz nach der Tat gefasst. Nach in den Medien verbreiteten Informationen wurde der Mörder von Nagihan Akarsel als Ismail Peker aus der Region Mamak in der türkischen Stadt Ankara identifiziert.  Er wurde offenbar vom türkischen Geheimdienst MIT beauftragt, den Mord zu verüben. Die Tatsache, dass Peker für den MIT tätig war, wurde durch eine Presseerklärung des türkischen Botschafters im Irak, Ali Rıza Güney, bestätigt. Bis heute wurden keine rechtlichen Schritte unternommen, um den Täter zu verurteilen und die politischen Hintergründe dieses Mordes aufzuklären. Weder die kurdische Regionalregierung noch die irakischen Behörden haben Anstrengungen unternommen, um diese extralegale Tötung aufzuklären, die Verantwortlichen zu verurteilen oder die Auftraggeber des Attentäters zur Rechenschaft zu ziehen.

Nagihan Akarsel wurde auf dem Weg in ein kurdisches Frauenforschungszentrum mit Bibliothek und Archiv angegriffen, einer offiziell registrierten Einrichtung in Sulaimaniyya, die sie zusammen mit anderen Frauen gegründet hat. Nagihan Akarsel wurde angegriffen, weil sie ein mutiges Herz und einen klaren Verstand hatte. Sie war sich der Ursprünge der Unterdrückung bewusst, die den Frauen und dem kurdischen Volk ständig die Freiheit verwehrt. Sie war Journalistin und Akademikerin, Gründungsmitglied der Frauennachrichtenagentur JINHA und des Jineolojî-Journals in Nordkurdistan und der Türkei sowie Initiatorin vieler Forschungsprojekte der Jineolojî-Akademie. Mit dieser Arbeit hat sie ihr Leben der Erforschung und Aufdeckung der Wahrheit gewidmet. Nagihan Akarsel hat im Angesicht von Unterdrückung, Besatzung und Ungerechtigkeit nie geschwiegen. Sie vereinte Frauen und Menschen aus allen Teilen der Gesellschaft für ein gemeinsames Leben in Würde und Freiheit. Das ist der Grund, warum Nagihan Akarsel dem türkischen Staat ein Dorn im Auge war und zur Zielscheibe wurde. In ihrer Persönlichkeit und Haltung vereinte sie die drei Elemente der kurdischen Losung „Jin, Jiyan, Azad“ (Frau, Leben, Freiheit). Dieser Slogan wurde von Frauen in Ostkurdistan und im Iran aufgegriffen und verbreitet, die sich gegen die Ermordung von Jina Amini durch iranische Staatstruppen auflehnten. Dieses Verbrechen geschah nur 18 Tage, bevor Nagihan Akarsel von Auftragskillern des türkischen Staates ermordet wurde.

Die Ermordung von Nagihan Akarsel reiht sich ein in die systematischen extralegalen Tötungen kurdischer Frauen durch staatliche Kräfte in den letzten vier Jahrzehnten. Insbesondere seit dem Beginn der AKP-Regierung von Erdogan haben sich die außergerichtlichen Tötungen von Aktivistinnen der kurdischen Frauenbewegung innerhalb und außerhalb der Grenzen der Türkei erhöht. 

Im November 2020 rief die Kurdische Frauenbewegung in Europa (TJK-E) die Kampagne „100 Gründe, um den Diktator zu verurteilen” [Der Titel der Kampagne basiert auf den exemplarischen Biografien von 100 Frauen und Mädchen, die seit Erdogans Machtübernahme aufgrund seiner Politik ermordet wurden] ins Leben, um Erdogan und die AKP-Regierung für ihre frauenfeindliche Politik anzuprangern. 235.727 Menschen unterstützten mit ihrer Unterschrift die Forderung, Erdogan gemäß dem Völkerrecht anzuklagen.

Der UN-Ausschuss für die Beseitigung der Diskriminierung von Frauen und die Sonderberichterstatterin über Gewalt gegen Frauen und Mädchen haben erneut ihre Besorgnis darüber zum Ausdruck gebracht, dass eine große Zahl überwiegend kurdischer Zivilpersonen, darunter viele Frauen, von türkischen Sicherheitskräften unter dem Vorwand von „Antiterroroperationen“ getötet worden sein sollen. Gleichzeitig forderten sie den türkischen Staat auf, die Täter ausfindig zu machen, strafrechtlich zu verfolgen und angemessen zu bestrafen und „zu diesem Zweck einen unabhängigen und unparteiischen Untersuchungsmechanismus mit internationaler Unterstützung einzurichten“. Keine dieser Empfehlungen wurde umgesetzt.

Im Gegenteil, die Situation hat sich weiter verschärft. Da die Täter in der Gewissheit handeln, dass ihre Verbrechen ungestraft bleiben, haben die gezielten politischen Morde an kurdischen Frauen seit 2022 dramatisch zugenommen. Diese völkerrechtswidrigen Tötungen werden häufig durch Drohnenangriffe auf kurdisches Gebiet im Irak sowie in Nord- und Ostsyrien verübt. Im Zeitraum zwischen Januar und Juni 2023 wurden 53 Menschen durch gezielte Drohnenangriffe des türkischen Militärs auf die Bürger der Autonomieverwaltung Nord- und Ostsyriens getötet. Unter ihnen waren Politikerinnen und Gemeindevorsteherinnen. Am 23. August 2023 zielte eine bewaffnete türkische Drohne auf ein Fahrzeug des Frauenfernsehsenders JIN TV auf der Straße von Qamishlo nach Amude. Bei dem Bombenanschlag wurde der Mitarbeiter des Senders, Necmeddin Feysel, getötet und die Journalistin Dalila Agit schwer verletzt. Ein weiteres Beispiel: Es gibt eindeutige Beweise dafür, dass der türkische Staat die Hinrichtungen von führenden Mitgliedern der kurdischen Frauenbewegung in Paris 2013 und 2022 geplant hat. Doch auch diese Verbrechen bleiben ungesühnt. In Ostkurdistan und im Iran wurden während der Aufstände, die auf die Ermordung von Jina Amini folgten, Dutzende von Frauen von iranischen Staatstruppen ermordet oder zu Tode gefoltert. Keiner der Täter ist strafrechtlich verfolgt worden.

All diese Beispiele zeigen das systematische Verbrechen der außergerichtlichen Tötungen, die von staatlichen Kräften an kurdischen Frauenrechtsverteidigerinnen begangen werden. Nur wenn die Täter und ihre Auftraggeber juristisch zur Rechenschaft gezogen werden, ist unserer Meinung nach ein wichtiger Schritt getan, um Gerechtigkeit für die einzelnen Fälle und für alle Opfer extralegaler Tötungen zu gewährleisten. Die Straflosigkeit politischer Morde zu beenden und die Täter und ihre Auftraggeber vor Gericht zu stellen, bedeutet, zukünftige Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu verhindern. 

Daher appellieren wir an die Vereinten Nationen und alle betroffenen Institutionen, dringende und wirksame Maßnahmen zu ergreifen. Indem wir Gerechtigkeit für Nagihan Akarsel fordern, fordern wir Gerechtigkeit für alle Frauen, die außergerichtlichen Hinrichtungen und anderen Formen von Feminizid zum Opfer gefallen sind. Mit der Devise „Ni una menos!“ fordern wir die internationale Gemeinschaft auf, dringend Maßnahmen zum Schutz des Lebens und der Rechte von Frauen zu ergreifen.

Diese Maßnahmen sollten umfassen:

- Die strafrechtliche Verfolgung und Verurteilung der für die Ermordung von Nagihan Akarsel und alle anderen außergerichtlichen Tötungen verantwortlichen Personen.

- Sperrung des irakischen und syrischen Luftraums für die türkische Luftwaffe, einschließlich bewaffneter und unbewaffneter Drohnen.

- Aufforderung an die Türkei, ihre illegalen Angriffe, ihre Besatzungspolitik, ihren Krieg und ihre systematischen Ermordungen von Frauenrechtlerinnen und Menschen, die in irgendeinem Teil Kurdistans leben, einzustellen, insbesondere in Bezug auf die Gebiete des Irak und Nord- und Ostsyriens.

- Strafverfolgung von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit - einschließlich Völkermord und Feminizid -, die von Erdogan und der AKP-Regierung begangen wurden, in Übereinstimmung mit dem Völkerrecht.

- Gewährleistung von Gerechtigkeit für Jina Amini und alle anderen Frauen im Iran, die ermordet, gefoltert oder inhaftiert wurden, weil sie für die Rechte und die Freiheit der Frauen gekämpft haben.

Als Unterzeichnende dieses offenen Briefes fordern wir Sie auf, sich unsere Forderungen zu eigen zu machen und sofortige Schritte zu unternehmen, um Gerechtigkeit zu erreichen und weitere Morde zu verhindern.“

International bekannte Persönlichkeiten unterstützen Appell

Der offene Brief wurde von zahlreichen Menschenrechtsverteidiger:innen, Aktivist:innen, Akademiker:innen, Initiativen und NGOs unterzeichnet, darunter der US-Journalistin Debbie Bookchin, Reporter ohne Grenzen, PEN-International und der DIE LINKE-Politikerin Cansu Özdemir aus der Hamburgischen Bürgerschaft. Eine vollständige Liste aller Unterzeichnenden findet sich unter der englischsprachigen Version des Appells, der nachfolgend einzusehen ist und als PDF-Datei heruntergeladen werden kann: