Freiheit beginnt zuerst im Kopf

Die Arbeit der Frauenbewegung in Nordsyrien konzentriert sich vor allem eine Veränderung im Denken. Die Delegation von „Gemeinsam Kämpfen“ hat den Hauptsitz der Frauenbewegung in Hesekê besucht.

Ein Teil der feministischen Delegation der Kampagne „Gemeinsam Kämpfen“ konnte in Hesekê den Hauptsitz von Kongreya Star, der Frauenbewegung von Rojava, besuchen. Wir hatten die Gelegenheit, mit einigen Frauen aus der arabischen Community zu sprechen.  

Meryem Ahmed Xelef, die in Hesekê im Mala Jin, dem Haus der Frauenbewegung, arbeitet, ist eine der vielen Frauen mit starker und selbstbewusster Ausstrahlung, wie wir sie überall treffen. Sie erklärt unserer Delegation, dass die arabischen Frauen vor der Revolution weitgehend vom öffentlichen Leben abgeschnitten waren. Insbesondere an den Orten der Region, die vom IS besetzt waren, hat die frauenverachtende Mentalität tiefe Spuren hinterlassen. Nun würden langsam Schritte unternommen, um ein neues Leben aufzubauen.

Polygamie und Kinderheirat

In den überall aufgebauten Mala Jin werden zahlreiche Probleme diskutiert, berichtet Meryem weiter. Gewalt von Ehemännern, Vätern und Brüdern, Polygamie, all das seien Probleme, mit denen die Frauen zum Mala Jin kämen. Vor allem arabische Frauen durften in der Regel nicht einmal entscheiden, wen sie heiraten. Kinderheirat sei ein großes Problem, viele Frauen wurden aufgrund des Verständnisses von „Ehre“ sogar ermordet.

„Manchmal behaupten sogar Frauen, sie hätten selbst gewollt, dass der Mann eine zweite Frau heiratet“, erklärt Meryem uns. „Sie haben wegen der ökonomischen Abhängigkeit große Angst, verlassen zu werden. Männer bestehen auf dem Recht, eine zweite Frau zu nehmen, das sei doch im Koran so festgelegt, auch der Prophet habe mehrere Frauen gehabt, so ihre Argumentation.“

Nicht nur der IS, auch das Baath-Regime hat den Ehrbegriff für eigene Zwecke benutzt. Immer wieder wurde uns in verschiedenen Fraueneinrichtungen in den letzten Tagen erklärt, auch im syrischen Recht sei festgelegt, dass ein Mann bis zu vier Frauen heiraten könne. In den offiziellen Familienbüchern ist Platz, um vier Ehefrauen einzutragen.

Nicht nur körperliche Gewalt ist ein weit verbreitetes Problem. Auch dass Frauen, die eigentlich weiter zur Schule gehen und studieren wollen, gegen ihren Willen verheiratet werden, ist ein gesellschaftliches Problem. Die Frauenbewegung versucht in solchen Fällen, die Familie davon zu überzeugen, dass das Mädchen zunächst die Schule beenden und dann selbst entscheiden soll, ob sie heiraten möchte. Die beschriebenen Probleme hätten schon stark abgenommen, wären aber noch nicht vollkommen verschwunden, erzählen die Frauen vom Mala Jin.

Die Doppelspitze als gesellschaftliches Grundprinzip

Das seit 2014 aufgebaute System des Ko-Vorsitzes in allen politischen und zivilgesellschaftlichen Gremien garantiert, dass jede Einrichtung, von der Kommune bis zur Stadtverwaltung, von einer Doppelspitze geleitet wird. Dieses System wird auch kulturell und religiös paritätisch umgesetzt. Auch in den Schulen wird nun von Anfang an Geschlechtergerechtigkeit unterrichtet und unter anderem das System der Ko-Vorsitzenden erklärt. In manchen Kommunen kommt es nach Angaben der Frauen durchaus vor, dass die männlichen Ko-Vorsitzenden ihre weiblichen Kolleginnen unter dem Vorwand, sie hätten ja schon genug mit Kindern und Haushalt zu tun, aus der Arbeit heraushalten. Es heißt dann: „Geh nach Hause, hier gibt es nichts für dich zu tun“.

„Teilweise steht der Name der Ko-Vorsitzenden nur auf dem Papier. Die Frauen müssen erst einmal die Angst vor Verantwortung überwinden. Sie haben Rechte und wir helfen ihnen, diese durchzusetzen“, wird uns berichtet. Die dahinter stehende Mentalität müsse durch Bildungsprozesse aufgebrochen werden.

„Wir wollen ein freies Denken erreichen“

Für viele Männer sei es peinlich, wenn die Frau zum Mala Jin gehe. Männer würden auch nicht akzeptieren, dass es Frauenorte gebe, zu denen sie keinen Zutritt haben. Die Mitglieder der Kongreya Star gehen in die Kommunen und diskutieren dort die Probleme, die die Frauen im Mala Jin vorbringen. „Wir gehen in alle Familien, egal welcher Herkunft sie sind“, erklärt Meryem. Nur wenn für ein Problem keine einvernehmliche Lösung zu finden ist, wird der Fall an den Diwana Adalet, den Gerechtigkeitsrat, weitergegeben.

„Wir erklären den Frauen, dass sie Rechte haben, dass sie mitbestimmen können. Wir wollen ein freies Denken erreichen. Wenn irgendwo eine Frau diese gedankliche Freiheit verkörpert, dann hat das Einfluss auf viele weitere Frauen“, fährt Meryem fort. Sie selbst ist dafür ein gutes Beispiel.