Die kurdische Politikerin Edibe Şahin ist aus der Haft entlassen worden. Die 63-Jährige konnte am Montag das Hochsicherheitsgefängnis Kandıra in der nordwesttürkischen Provinz Kocaeli verlassen, wo sie seit rund sieben Jahren in politischer Geiselhaft war. Vor der Vollzugsanstalt wurde sie von Familienangehörigen und Freundinnen empfangen.
Edibe Şahin war zwischen 2009 und 2014 Bürgermeisterin ihrer Geburtsstadt Dersim. Die Politikerin war für die Partei der demokratischen Gesellschaft (DTP) gewählt worden. Bei den Kommunalwahlen 2009 hatte die DTP die Bürgermeisterämter in über 100 kurdischen Städten und Gemeinden gewonnen. Das türkische Verfassungsgericht verbot die Partei daraufhin noch im selben Jahr. Als Nachfolgerin wurde die Partei des Friedens und der Demokratie (BDP) gegründet, der sich auch Şahin anschloss.
Bei der Parlamentswahl im Juni 2015 kandidierte Şahin für die HDP und gewann als erste Frau aus Dersim ein Mandat in der türkischen Nationalversammlung. Die HDP schaffte damals erstmals in der Geschichte der Türkei den Sprung ins Parlament und kam landesweit auf 13 Prozent der Stimmen – und Erdoğans AKP verlor gleichzeitig die absolute Mehrheit. Bei eilig angesetzten Neuwahlen im November 2015 konnte die HDP ihr Ergebnis knapp halten, mit nur 10,8 Prozent blieb sie über der damals noch gültige Zehn-Prozent-Hürde.
Damit begann eine Zeit blutiger Anschläge und Auseinandersetzungen. Am 20. Mai 2016 wurde die Immunität der HDP-Abgeordneten aufgehoben und nach dem versuchten Militärputsch vom 15. Juli 2016 wurde der Startknopf für die Festnahmeoperation vom 4. November 2016 gedrückt. Zahlreiche Mitglieder und politisch Handelnde der Partei landeten hinter Gittern, darunter auch neun Abgeordnete und Stadtoberhäupter. Edibe Şahin gelang bei den Neuwahlen im Jahr zuvor nicht erneut der Einzug ins Parlament. Sie konzentrierte sich zu dem Zeitpunkt wieder auf kommunales und frauenpolitisches Engagement.
Edibe Şahin (vierte von rechts beim Empfang vor dem Gefängnis Kandıra | Foto: Pirha
Im Dezember 2017 wurde Şahin von einem türkischen Gericht in Dersim wegen „Mitgliedschaft in einer Terrororganisation“ und „Propaganda“ für selbige zu einer Freiheitsstrafe von acht Jahren und neun Monaten verurteilt. Da sie inzwischen 75 Prozent der Strafe verbüßt hat, kam sie frei. Nach dem alten Strafvollzugsgesetz konnten Häftlinge, die zeitige Freiheitsstrafen zu verbüßen hatten, grundsätzlich nach zwei Dritteln ihrer Haftzeit entlassen werden. Seit die AKP und ihr rechtsextremer Koalitionsparter MHP im Frühjahr 2020 das „Strafvollzug-Reformpaket“ durch das türkische Parlament brachten, fällt diese Regelung für die politischen Gefangenen weg. Diese müssen seit der „Reform“ drei Viertel der Haftdauer absitzen, weil sie wegen angeblichen „Terrordelikten“ verurteilt wurden. Mördern, Sexualverbrechern und Drogenhändlern dagegen wird die Reststrafe nach 67 Prozent der abgesessenen Haftdauer zur Bewährung ausgesetzt.