Die patriarchale Gewalt mit organisiertem Kampf beantworten

Arzu Temo vom Frauenverein Sara berichtet von einem Anstieg von Gewalt gegen Frauen in Nordsyrien und sagt, die Gewalt könne nur durch radikalen und organisierten Kampf beendet werden.

Der 25. November, der Internationale Tag zur Beseitigung von Gewalt an Frauen, steht kurz bevor. In ANF-Gespräch äußerte sich Arzu Temo, eine der Verantwortlichen der Frauenorganisation Sara, über die aktuelle Situation in Nord- und Ostsyrien und den dortigen türkisch besetzten Regionen.

Wir beschränken uns nicht auf Kampagnen“

Die Frauenorganisation Sara, der Arzu Temo angehört, führt täglich den Kampf gegen patriarchale Gewalt. Temo berichtete über die Aktivitäten von Sara: „Unsere Aktivitäten beschränken sich nicht auf Kampagnen. Durch Schulungen und Seminare wollen wir Bewusstsein schaffen und ein gemeinsames Leben aufbauen. Wir versuchen, die Gesellschaft außerdem mit Broschüren zum Thema Gewalt gegen Frauen zu sensibilisieren und Wege und Methoden zur Bekämpfung von Gewalt aufzuzeigen und ein gutes und gleichberechtigtes Leben aufzubauen. Wir besuchen Frauen in ihren Häusern und Frauen besuchen unsere Zentren. Wir engagieren uns für die Solidarität der Frauen, die Sensibilisierung von Frauen und deren Organisierung. Wir begleiten Frauen in Gerichtsverfahren, um die Wahrheit aufzuklären und für Gerechtigkeit zu sorgen.“

Frauen befinden sich besonders im Visier des türkischen Staates“

Frauen in Nordostsyrien seien ein ständiges Angriffsziel des türkischen Staates, führte Arzu Temo weiter aus: „Im Jahr 2023 haben wir gesehen, wie Frauen einer Spezialkriegspolitik unterworfen wurden. Auch die Zahl der Frauen, die vom türkischen Staat angegriffen und ermordet wurden, ist gestiegen. Frauen, die an der Spitze der Gesellschaft standen, wurden ermordet. Es waren Frauen, die die Gesellschaft dazu ermutigten, sich zu organisieren, Bewusstseinsarbeit leisteten und gegen Gewalt kämpften. Es waren Frauen, die etwas Wichtiges geschaffen haben. Ganz gleich, wie bedrohlich, einschüchternd und erdrückend die Angriffe waren, die Frauen antworteten mit Widerstand, Kampf und Rebellion und behaupteten ihre führende Position in den gesellschaftlichen Kämpfen. Ohne die Befreiung der Frauen, die an der Spitze der Gesellschaft stehen und die Hälfte der Gesellschaft ausmachen, kann die Gesellschaft nicht befreit werden.

Kriegstraumata erschweren die Situation

Frauen und Kinder leiden am meisten unter der Atmosphäre des Krieges. Frauen und Kinder, die ihre Familien, ihr Land und ihr Zuhause verloren haben, erleiden große Traumata. Frauen haben viel Arbeit in ihr Land und ihr Zuhause gesteckt, sie haben daher Schwierigkeiten, sich an ihr neues Leben anzupassen.

Frauen und Kinder, die migrieren müssen, erleiden auch einen körperlichen und geistigen Erschöpfungszustand. Für ein Kind stellt eine Trennung von der Schule, den Freunden, von seinem Lebensmittelpunkt, ja sogar von seinem Spielort ein Entwicklungshindernis dar. Es dauert lange, bis die psychischen Folgen der Migration überwunden sind, und auch der dadurch entstehende demografische Wandel ist ein nicht hinzunehmender Faktor.

Gewalt ist in den besetzten Regionen in Rojava auf höchstem Niveau

Natürlich müssen die Probleme, mit denen Frauen unter der Besatzung konfrontiert sind, in Hinsicht auf verschiedene Dimensionen betrachtet werden. Die durch die Besatzung verursachte Gewalt gegen Frauen ist in Efrîn, Girê Sipî und Serêkaniyê besonders stark ausgeprägt. Jeden Tag wird mindestens eine Frau Opfer von Gewalt. Es ist sehr schwierig, die besetzten Gebiete zu besuchen. Wir können nicht direkt intervenieren. Frauen werden vergewaltigt, lebendig verbrannt und ermordet, aber wir haben keine klare Bilanz. Zumindest haben wir Kontakt zu den Frauen in Nord- und Ostsyrien, wir haben die Möglichkeit, hier direkt zu intervenieren. Es ist nicht möglich, direkt zu erfahren, was in den besetzten Gebieten passiert, aber auch wenn es keine klaren Zahlen gibt, erreichen uns Informationen. Es ist wichtig, Statistiken zu erstellen, aber das reicht nicht aus, um die Gewalt zu verhindern. Mitglieder von Menschenrechtsorganisationen, die in die Region reisen, sollten Kontakt mit internationalen Institutionen zur Terrorbekämpfung aufnehmen und ihnen die Informationen weitergeben. Der türkische Staat muss juristisch verfolgt werden. Ohne eine Bestrafung des türkischen Staates können die Verbrechen unter der Besatzung nicht ans Licht kommen, und so bleiben diese Taten ungesühnt.“

Anstieg patriarchaler Gewalt in selbstverwalteten Regionen

Arzu Temo berichtete, dass die Gewalt an Frauen in den selbstverwalteten Regionen in Nord- und Ostsyrien bis April 2023 relativ niedrig war, die Zahlen allerdings im Mai angestiegen seien. Temo kommentierte diese Entwicklung wie folgt: „Massaker, Vergewaltigungen und Gewalt gegen Frauen nahmen mit verstärkter Umsetzung der türkischen Spezialkriegspolitik zu. Frauen wurden im ‚Namen der Ehre‘ gemäß der patriarchalen Mentalität auf der Grundlage von sogenannten Traditionen ermordet. Warum nahm die Gewalt gegen Frauen in der Mitte des Jahres zu? Natürlich haben wir uns selbst die Frage gestellt, in welchem Bereich unsere Sensibilisierungs- und Organisationsarbeit unzureichend gewesen sein mag, so dass es zu einem Anstieg der Gewalt kommen konnte. Wir müssen uns selbstkritisch mit vielen Fragen auseinandersetzen, z.B. ob die durchgeführten Seminare nicht ausreichend waren, wo wir versagt haben, ob wir nicht alle Teile der Gesellschaft erreichen konnten oder ob wir die Fälle nicht gut verfolgen und so keine Gerechtigkeit durchsetzen konnten.“

Am wenigsten Gewalt in der Region Cizîrê

Temo berichtete über die Cizîrê-Region: „Mit der Verwirklichung der Frauenrevolution zerbrachen die Frauen die Ketten der Sklaverei. Viele Frauen sagten Nein zur Gewalt und erhoben sich gegen das Patriarchat. Sie schlossen sich zusammen und kämpften für Gleichheit und Gerechtigkeit. Je größer der Kampf, desto größer die Gewalt der Gegner. Deshalb ist es notwendig, um gleiche Bedingungen zwischen den Geschlechtern zu schaffen, gegen die patriarchale Mentalität zu kämpfen. Im Vergleich zum Nahen Osten und zu Syrien im Allgemeinen können wir sagen, dass die Gewalt in der Region Cizîrê seit 2011 zurückgegangen ist, insbesondere mit der Verabschiedung der Frauengesetze im Jahr 2014. Die Umsetzung des Frauen- und Familiengesetzes in der Region Cizîrê liegt bei über 60 Prozent. Leider haben wir in der Euphrat-Region noch nicht das gewünschte Ergebnis erzielt. Mit den laufenden Diskussionen versuchen wir, die Hindernisse bei der Umsetzung der Gesetze zu überwinden. Es gibt immer noch viele Morde an Frauen in Raqqa, die immer wieder als Selbstmorde dargestellt werden. Wir können diese Massaker verhindern, indem wir die Stimme der Gerechtigkeit gegen Gewalt erheben und das Familiengesetz an solchen Orten durchsetzen.“

Hinsichtlich des bevorstehenden Kampftags gegen Gewalt an Frauen erklärte Arzu Temo: „Unser Kampf gegen Gewalt wird weitergehen. Wir haben den Duft der Freiheit gerochen, aber wir sind noch nicht vollständig befreit. Wir müssen jetzt die Ketten der Sklaverei sprengen. Wir müssen die Gewalt gegen Frauen an der Wurzel packen und Nein zur Gewalt sagen.“

Der Frauenverein Sara

Der Frauenverein Sara zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen wurde am 1. Juni 2013 nach einem 2011 eingeleiteten Vorbereitungsprozess gegründet. Im Jahr 2014 erließ die Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien das Frauengesetz und 2022 wurde es als Familiengesetz, in dem die Rechte der Frauen garantiert und erweitert werden, aktualisiert. Sara war an der Ausarbeitung des Familiengesetzes beteiligt und setzt sich in der Gemeinschaft aktiv für die Verhinderung von Vergewaltigungen, Femiziden, Polygynie und Kinderehen ein. Die Organisation hat 2014 ihr erstes Büro in Kobanê eröffnet und verfügt nun über Einrichtungen in Hesekê, Sirîn, Ain Issa, Raqqa und Aleppo.

Viele Frauen durch Angriffe getötet

Nach Angaben der Menschenrechtsorganisation der Cizîrê-Region wurden zwischen dem 1. Januar bis zum 14. November mindestens sieben Frauen durch bewaffnete Drohnen des türkischen Staates getötet und drei Frauen verletzt. Durch Artillerieangriffe und Explosionen von türkischen Sprengkörpern wurden elf Frauen getötet und zehn verletzt. 24 Frauen wurden in verschiedenen Orten ermordet. Vier Frauen begingen Suizid. Fünf Frauen wurden verschleppt und zwei Frauen wurden in Efrîn festgenommen, mindestens eine Frau wurde in der besetzten Region von Vertretern der Besatzungsmacht vergewaltigt.