Rohilat Efrîn hat sich als Mitglied der Generalkommandantur der Frauenverteidigungseinheiten (YPJ) zu den anhaltenden Angriffen der Türkei auf die Autonomieregion Nord- und Ostsyrien geäußert. Die YPJ-Kommandantin macht in ihrer politischen Einordnung der aktuellen Angriffswelle deutlich, dass es sich nicht um eine neue militärische Aggression handelt, sondern um eine Fortsetzung der Besatzungsstrategie der vergangenen Jahre. Mit der gezielten Zerstörung der Infrastruktur zur Versorgung der Bevölkerung mit dem lebensnotwendigen Bedarf sollen die Menschen aus der Region vertrieben werden. Der türkische Staat will mit dem Zermürbungskrieg seine Besatzungszone im Norden Syriens ausweiten. Rohilat Efrîn erklärt zu den Hintergründen des aktuellen Geschehens:
YPJ-Kommandantin Rohilat Efrîn
Die Revolution von Rojava wird seit Beginn angegriffen
Im Hinblick auf die anhaltende Welle von Angriffen seit dem 5. Oktober möchte ich zunächst betonen, dass es sich nicht um eine neue Situation handelt. Es handelt sich keineswegs um neue Angriffe, die erst vor kurzem begonnen haben. Seit den Anfängen der Revolution in Rojava haben wir solche Angriffe erlebt, und deshalb ist es wichtig, dass die aktuelle Welle als eine Fortsetzung der Angriffe, die vor Jahren begonnen haben, anerkannt wird. Ich möchte außerdem betonen, dass die Revolution hier in Nord- und Ostsyrien von Anfang an unter der Führung von Frauen und der YPJ organisiert wurde. Es waren die YPJ, die zur Vorhut im Kampf gegen die Finsternis des IS werden sollten. Mehr als zehn Jahre lang haben die YPJ auf organisatorischer, ideologischer und militärischer Ebene Widerstand geleistet, und bis zum heutigen Tag sind wir mit einer klaren Haltung auf den Beinen. Die Revolution hat sich seit elf Jahren entwickelt, und in dieser Zeit haben die Frauenverteidigungseinheiten eine Vorreiterrolle gespielt.
Warum gerade jetzt?
Die wichtigste Frage in Bezug auf die aktuellen Angriffe ist die Frage: Warum gerade jetzt? Warum ausgerechnet im Oktober? In den letzten Jahren gab es Schlüsselmomente in unserer Geschichte, die sich im Oktober ereignet haben, wie am 9. Oktober 1998, als Abdullah Öcalan Syrien verlassen musste. Aus diesem Grund ist der Oktober als Beginn des internationalen Komplotts gegen Abdullah Öcalan und das gesamte kurdische Volk bekannt. Die Entführung und Inhaftierung von Abdullah Öcalan war eine gezielte Aktion, um das kurdische Volk daran zu hindern, seine eigene Identität zu erlangen, seine eigene Willensstärke zu entwickeln; um es davon abzuhalten, sich gegen Diktaturen und Kolonialherren wie den türkischen Staat zu erheben. Das internationale Komplott ist also im Kern ein Angriff gegen ein Volk, gegen seine Kultur und gegen seine Sprache. Aus diesem Grund gibt es jedes Jahr im Oktober Angriffe auf unser Land, auf unser Volk und natürlich auch auf die Frauen.
Die Menschen sollen zur Flucht gezwungen werden
Die jetzt stattfindenden Angriffe zielen darauf ab, eine Identität, eine Kultur und eine Sprache auszulöschen. Die Menschen sollen von der Revolution und ihrer eigenen kulturellen Identität entfremdet werden. Sie sollen von ihrem angestammten Land vertrieben und in Angst und Schrecken versetzt werden. Die Angriffe auf die Infrastruktur wie Ölquellen, Wasserstationen und Getreidelager sollen die Zivilbevölkerung gezielt schädigen. Der türkische Staat nutzt diesen Schaden, um Nahrungsmittelknappheit zu erzeugen und so die Menschen zur Flucht aus ihrer Heimat zu zwingen. Das ist der Grund für die Angriffe des türkischen Staates auf die lebenswichtige zivile Infrastruktur. Zuerst, um die Menschen hungern zu lassen, und dann, um sie zu assimilieren. Und natürlich, um ihre Willenskraft zu brechen.
Neue Strategie der Besatzung
Im vergangenen November gab es ähnliche Angriffe, und diese aktuelle Welle von Luftangriffen zielt darauf ab, die Menschen in Nord- und Ostsyrien vollständig zu vertreiben. Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass diese Angriffe dem Ziel des türkischen Staates dienen, seine Besatzung auszuweiten - man könnte sogar von einer neuen Strategie der Besatzung sprechen. Es ist eine Strategie, die darauf abzielt, einfach die gesamte Bevölkerung aus ihrer Heimat zu vertreiben. Nach dem internationalen Kriegsrecht ist die legitime Selbstverteidigung ein garantiertes Recht. Der türkische Staat hat zahlreiche Abkommen mit verschiedenen Garantiemächten geschlossen, um seinen mörderischen Plan gegen unser Volk durchführen zu können. Die Angriffe auf unsere Infrastruktur, wie wir sie jetzt erleben, sind Teil eines Plans, unsere Existenz als Volk vollständig zu vernichten.
Was die internationale Gemeinschaft wissen sollte
Nachdem wir also betont haben, dass die gegenwärtige Welle der Aggression nicht neu und nicht aus dem Nichts heraus entstanden ist, ist es wichtig, die sehr reale Gefahr zu analysieren, die diese Angriffe mit sich bringen. Der wichtigste Aspekt, den die internationale Gemeinschaft, die demokratischen Kräfte und die Frauen in der Welt wissen sollten, ist, dass diese Anschläge wieder einmal die Tür für ein Wiederaufleben des IS öffnen. Seit Jahren gibt es ständige Drohungen gegen unsere Region, die darauf abzielen, die IS-Mitglieder zu befreien, die derzeit in Lagern und Gefängnissen in Nord- und Ostsyrien festgehalten werden. Wir wissen, dass es bereits ernsthafte Versuche gibt. Deshalb müssen wir die aktuellen Angriffe im Wesentlichen als eine Gelegenheit sehen, den IS wieder zu stärken. Es gibt viele Staaten, die sich eigentlich gegen den IS gestellt haben, jetzt aber mit dem türkischen Staat kooperieren, der die von ihm besetzten Gebiete durch den Einsatz von islamistischen Söldnern hält. Deshalb müssen wir die aktuellen Angriffe als Handlungen verstehen, die den IS stärken, wieder Dunkelheit in die Region bringen und die Errungenschaften des Volkes und der Revolution zerstören sollen.
Besatzung von Serêkaniyê und Girê Spî im Oktober 2019
Ein zweites wichtiges Ereignis, das sich in diesem Monat ereignet hat und auf das ich hinweisen möchte, ist der Jahrestag der gewaltsamen Besetzung von Serêkaniyê und Girê Spî am 9. Oktober 2019. Es ist kein Zufall, dass dies das gleiche Datum ist wie das internationale Komplott gegen Abdullah Öcalan, so dass wir sie nicht getrennt voneinander analysieren können. Wir verstehen den 9. Oktober als den Tag eines internationalen Komplotts gegen unser Volk und darüber hinaus gegen alle freiheitsliebenden Völker der Welt, die ein Leben in Gleichheit und Würde wollen. Das Komplott richtete sich gegen Abdullah Öcalan, aber es zielte auf den Willen eines Volkes und alle demokratischen Kräfte. In den besetzten Gebieten von Serêkaniyê und Gîre Spî - und auch in Efrîn, das 2018 gewaltsam angegriffen und besetzt wurde - werden täglich Menschenrechte verletzt und die Demografie verändert. In den türkisch besetzten Gebieten wurden Söldnergruppen angesiedelt und ausgebildet, und von diesen Gebieten aus werden Angriffe auf unsere Gebiete und gegen die Bevölkerung gestartet. In diesem Sinne können wir die Bedeutung dieser Jahreszeit als eine Zeit der Vernichtung einer Sprache und Kultur, der Zwangsumsiedlung, der strikten Assimilationspolitik, der Erzwingung von Gehorsam gegenüber einem unterdrückerischen System und des Verstummens der Stimme der Freiheit verstehen. Die anhaltenden Angriffe zu einem Zeitpunkt des Jahres, der eine solche historische Bedeutung hat, senden eine klare Botschaft: Leistet keinen Widerstand, habt keine eigene Willenskraft und glaubt nicht, dass es euch jemals erlaubt sein wird, eure Gesellschaft in Selbstverwaltung zu organisieren.
Der türkische Staat hat Angst vor den YPJ
Außerdem wissen wir, dass der türkische Staat Angst vor unseren Kräften und unserem Volk hat, die beide eine klare Haltung und Bereitschaft zum Widerstand gegen die Angriffe haben. Darauf sind wir stolz. Als YPJ haben wir immer eine klare Haltung zu diesen Angriffen eingenommen. In den vielen Jahren der Revolution haben wir als Vorhut gekämpft und die organisierte Kraft aufgebaut, die die Dunkelheit des IS besiegt hat. Schon vor dem 5. Oktober wurden unsere Gebiete angegriffen, von Minbic bis zu Gebieten wie Deir-ez Zor und Til Temir. Diese Ereignisse sind nicht losgelöst von den aktuellen. Die Angriffe, die kürzlich in Deir-ez Zor stattfanden, wurden von den Kräften der YPG, YPJ und QSD vereitelt. Auch die Angriffe auf Minbic und Til Temir wurden durch die klare Haltung und den Widerstand der YPJ verhindert. Wir müssen also verstehen, dass es bereits vor dem 5. Oktober umfangreiche Angriffe gab, die vereitelt wurden von den YPJ und unserem Volk, das die Situation gut analysiert und sich gegen diese Angriffe auf politischer, sozialer und militärischer Ebene organisiert hat.
Die YPJ haben den IS besiegt
Viele der Avantgardistinnen, die bei diesen Widerständen eine führende Rolle spielten, wurden später selbst zur Zielscheibe, wie die YPJ-Kommandantin Şervîn Serdar, die am 15. September dieses Jahres bei einem türkischen Drohnenangriff ermordet wurde. Unsere Genossin Şervîn war seit Beginn der Revolution am Kampf der YPJ beteiligt und hatte an vielen Offensiven gegen den IS teilgenommen. Die Avantgarde der YPJ ins Visier zu nehmen, ist daher ein Angriff auf die Erinnerung, die Geschichte und die Erfahrung der YPJ, auf ihre Widerstandskultur. Als YPJ haben wir uns von Beginn der Revolution an organisiert und den IS besiegt. So wurden wir zu einem Beispiel für die ganze Welt, gegen den IS nicht aufzugeben. Jetzt wollen alle von unserer Erfahrung lernen. Frauen wie Kommandantin Şervîn und all die anderen, die in den letzten Jahren durch gezielte Drohnenangriffe der türkischen Besatzungsmacht ermordet wurden, ins Visier zu nehmen, ist im Grunde genommen ein Akt, der es dem IS ermöglicht, wieder stärker zu werden.
Die Stimmen gegen die barbarischen Angriffe vereinen
Wir, die YPJ, werden den Geist des Widerstands, den wir seit Beginn der Revolution bis heute gezeigt haben, weiterführen. Wir werden unser Recht auf legitime Selbstverteidigung wahrnehmen und weiterhin eine Vorreiterrolle für Frauen gegen die Angriffe des türkischen Staates und der mit ihm verbundenen Kräfte spielen. Die internationale Öffentlichkeit und insbesondere alle demokratischen Kräfte und die Frauen der Welt rufen wir in dieser Zeit der schweren Angriffe dazu auf, dass sich alle positionieren. Wir rufen die Menschen auf, die Situation zu verfolgen, die Geschehnisse zu analysieren und gemeinsam für Demokratie einzutreten. Wir hoffen vor allem, dass die Frauen weltweit, von deren Haltung und Solidarität wir immer die größte Motivation erhalten haben, sich gegen diese Angriffe erheben werden. Wir haben hier nur eine Stimme, aber sie muss in der ganzen Welt verstärkt werden. Um unser Heimatland, die Freiheit der Frauen und unsere Kultur zu verteidigen, glauben wir, dass alle freiheitsliebenden Menschen und Frauen, die die Idee der Frauenbefreiung verteidigen, mit den YPJ und unserem Volk zusammenstehen werden. Wir rufen alle dazu auf, die Stimme der Demokratie zu sein und sich geschlossen gegen die Angriffe der Türkei und des IS zu stellen. Wir hoffen, dass alle demokratischen Kräfte und diejenigen, die die Rechte der Menschheit verteidigen, eine klare Haltung einnehmen und ihre Stimmen gegen die anhaltenden barbarischen Angriffe vereinen werden.