Demokratische Autonomie für ein freies Leben

Die inhaftierte TJA-Sprecherin Ayşe Gökkan hat für JinNews ihre Gedanken zum Thema demokratische Autonomie niedergeschrieben. In dem Gesellschaftsentwurf sieht die Feministin den einzigen Weg für Frauen zu einem freien Leben.

Demokratische Autonomie ist ein lebendiges System, das mit der Aufteilung der Verantwortlichkeiten auf alle lokalen Dynamiken und der gleichberechtigten Teilhabe von Frauen in allen Lebensbereichen entsteht. Die demokratische Autonomie sollte als ein Modell betrachtet werden, in dem Frauen das Leben gemeinsam gestalten und Diskriminierung aufgrund des Geschlechts, der ethnischen Zugehörigkeit oder unterschiedlicher Kulturen beseitigen.

In diesem Sinne geht es nicht um ein konventionelles Regierungsmodell, sondern um den Gegenentwurf zum unipolaren und homogenen Verständnis von Nationalstaat: dem Aufbau einer demokratischen Nation. Dies ist eine Lebensform, die nach dem Prinzip „weniger Staat, mehr Gesellschaft” handelt, basierend auf der demokratischen Einheit der Nation und dem demokratischen Konföderalismus.

Befreiung der Frauen das bestimmende Prinzip

Die demokratische Autonomie gründet auf einem kommunalen System, in dem alle Individuen der Gesellschaft die Möglichkeit haben, Kanäle zu finden, um zu den Entscheidungsprozessen beizutragen, und das alle Nachbarschaften, Glaubensrichtungen, Kulturen und Gemeinschaften befähigt, aktive Subjekte von Lösungsfindungen zu sein. In einem solchen System nehmen Frauen gleichberechtigt an allen Entscheidungsprozessen teil. Wir sprechen hier also von einem System, das auf einem demokratischen, ökologischen Paradigma beruht, in dem die Befreiung der Frauen das bestimmende Prinzip ist. Der einzige Weg, wie wir Frauen uns von der Kolonisierung befreien können, ist unsere eigene Selbstorganisation. Denn die unrechtmäßigen und ungerechten Nationalstaaten sind eine ernstzunehmende Quelle der Zerstörung für die Völker der Welt.

Die demokratische Autonomie findet eine Lösung für Frauen und Völker gegen diese Zerstörung. Zusammen mit dem kurdischen Widerstand in Bakur (Nordkurdistan) und der Frauenrevolution in Rojava hat sie eine Diskussion darüber eröffnet, wie brutal „Regierungen” sind, die im Namen der Staaten Millionen von Menschen in Kriegen töten und wie diejenigen belohnt werden, die solche Massaker verüben. Die Frauenrevolution hat auch gezeigt, dass die früher den Frauen zugewiesene Aufgabe, ihren Körper wie eine Fabrik zu behandeln, um ständig Kinder zu gebären, aufzuziehen und die Nationalstaaten zu stärken, von den Frauen nicht mehr akzeptiert wird. Sie hat auch gezeigt, dass organisierte Frauen und ihr Kampf einen Sieg gegen die Kolonialisierung erzielen können.

Ausdruck der Selbstorganisation von Frauen durch Kommunen

Die demokratische Autonomie beinhaltet nicht die Selbstverteidigung im Sinne der Sicherheit. Sie ist kein System zum Aufbau einer kurdischen Hegemonie anstelle einer türkischen, kein Regime, in dem wir uns von unseren eigenen Vater schlagen lassen anstelle unserer Stiefväter. Demokratische Autonomie ist weder der Aufbau lokaler Mächte zur Übernahme staatlicher Kompetenzen, noch die Etablierung einer Hegemonie der Frauen über Männer oder patriarchale Mentalität. Die demokratische Autonomie ist in erster Linie Ausdruck der Selbstorganisation von Frauen durch Kommunen und Versammlungen (genderparitätischer Ko-Vorsitz, freies und gleichberechtiges Leben, gleichberechtigte Vertretung) in einem konföderalen Frauensystem. Außerdem geht es nicht um die Selbstverteidigung von Frauen im engeren Sinne von Sicherheit. Sie bezieht sich auf die Organisation und Institutionalisierung der demokratischen Gesellschaft in allen Bereichen und die Erlangung eines selbstorganisierten Systems gegen die Zerstörung und Verweigerung, die ihren Werten, insbesondere dem Recht auf Leben, auferlegt werden.

Demokratische Autonomie drückt den umfassenden Selbstschutz der Frauen gegen alle Arten von sexualisierter Gewalt und Misshandlung durch Organisierung in allen Lebensbereichen aus. Dazu gehört auch, dass Frauen sich nicht schämen und nicht fürchten, sondern sich auf diejenigen konzentrieren, die sich schämen und fürchten sollten. Demokratische Autonomie ist ein System, in dem Frauen die Verbrechen gegen Frauen aufdecken, ihren Widerstand gegen diese Verbrechen organisieren und ihren Kampf gemeinsam und kontinuierlich fortsetzen.

Die demokratische Autonomie durch die Schaffung eines gemeinsamen Lebens ist die Errichtung einer eigenen Demokratie und eines eigenen sozialen Systems. Es ist ein Kampf, um das bestehende nationalstaatliche System der demokratischen Selbstverwaltung unterzuordnen. Den Grundpfeiler bildet das Verständnis einer demokratischen Nation und eine supranationale Strukturierung, nicht die Ideologie des Nationalsystems. Demokratische Autonomie ist die Einheit der politisch, sozial, kulturell, religiös, ökonomisch, ökologisch und kommunal organisierten Gesellschaft.

Eine ethisch-politische Gesellschaft aufbauen

Um all dies bewerkstelligen zu können ist es notwendig, zuerst die Pflichten einer Intellektuellen zu erfüllen. Die Aufgabe besteht aber nicht darin, lediglich Denkwissenschaften zu betreiben, sondern eine ethisch-politische Gesellschaft aufzubauen – als Forschende und zugleich Widerständige. Sich der Wahrheit nähern, indem beide Bereiche, die als 1. Natur und 2. Natur definiert werden können, mit den Sozialwissenschaften verschmelzen. Es geht darum, das Band einer ethisch-politischen Gemeinschaft zu knüpfen, die das Dilemma von Subjekt-Objekt, Wir-Andere, Körper-Seele, Tod-Leben ablehnt. So wie beispielsweise Nachrichten, in denen W-Fragen (nach dem Was, Wann, Wie, Wo, Warum und Wer) mit von Männern dominierten staatlichen Akteuren fiktionalisiert werden, sind auch die Konzepte und Theorien fiktionalisiert, die uns bei unserer Suche der nach Wahrheit des Wissens begegnen.

In einer Atmosphäre der Krise könnten diese Konstruktionen jedoch zu individuellen Abkürzungen auf diesem Weg und damit zum Scheitern führen. Sehen wir uns die aktuellen Vorgänge an: Es kann kein Zufall sein, dass der IS als Akteur den Einfluss des Nationalstaates erhöht hat. Es ist auch kein Zufall, dass die Gewalt gegen Frauen unter der Regierung der AKP um 1.400 Prozent zugenommen hat, nachdem sich die Frauenbewegung zu einer Alternative etablierte und ihre Sichtbarkeit erhöhte. Dasselbe gilt auch im Hinblick auf den Widerstand der Frauen gegen den IS und die Tatsache, dass Kurdistan sowie der Mittlere Osten das IS-Angriffszentrum bilden. Sobald die Forderungen von Frauen und den Dynamiken der gemischen Gesellschaft an Konturen gewinnen, werden manipulative Methoden in Gang gesetzt, die den Forderungen und Kämpfen entgegenwirken sollen. Diese Manipulation zu erkennen, Unklarheiten aus dem Weg zu räumen und den Widerstand zu stärken, sind heute die Hauptaufgaben der Intellektuellen.

Ayşe Gökkan: Journalistin, Bürgermeisterin, Feministin

Ayşe Gökkan ist 1965 in Pirsûs (tr. Suruç) geboren und hat Journalismus studiert. Sie ist bereits über 80 Mal festgenommen worden, in den letzten Jahren wurden diverse Ermittlungsverfahren wegen vermeintlicher Mitgliedschaft in einer Terrororganisation eingeleitet. Seit Ende Januar befindet sie sich im Frauengefängnis in Amed in Untersuchungshaft. Ihr wird eine führende Position in einer „terroristischen Organisation“ vorgeworfen.

2009 wurde Ayşe Gökkan mit 83 Prozent der Stimmen zur Bürgermeisterin der Kreisstadt Nisêbîn (Nusaybin) gewählt. In ihrer Amtszeit wurden knapp 200 Ermittlungsverfahren gegen sie geführt. Zuletzt war sie 2017 für fünf Monate in Untersuchungshaft. Seit Februar 2020 ist sie Sprecherin der Bewegung freier Frauen (Tevgera Jinên Azad, TJA). Im Dezember 2020 wurde sie in Mêrdîn zu achtzehn Monaten Haft verurteilt. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.

In dem Verfahren wurde sie beschuldigt, sich in militärischem Sperrgebiet aufgehalten und Sachschäden verursacht zu haben. Der Vorwurf geht auf eine Aktion des zivilen Gehorsams im Oktober 2013 zurück. Zu dem Zeitpunkt war Gökkan Bürgermeisterin von Nisêbîn und protestierte mit einem Hungerstreik an der Grenze nach Syrien gegen den Bau einer Mauer.