Anklageschrift gegen Şevin Alaca vorgelegt

Die Staatsanwaltschaft in Qers hat ihre Anklageschrift gegen die abgesetzte und verhaftete Ko-Bürgermeisterin Şevin Alaca eingereicht. Der HDP-Politikerin werden hauptsächlich frauenpolitische Aktivitäten vorgeworfen. Ihr drohen bis zu 15 Jahre Haft.

Die Anklageschrift gegen die abgesetzte Ko-Bürgermeisterin von Qers (türk. Kars), Şevin Alaca, ist beim 2. Schwurgerichtshof der nordkurdischen Großstadt eingereicht worden. Der HDP-Politikerin wird im Zusammenhang mit ihren Tätigkeiten als Bürgermeisterin „Mitgliedschaft in einer Terrororganisation“ vorgeworfen. Hauptsächlich geht es um frauenpolitische Aktivitäten wie die Teilnahme Alacas an Kundgebungen anlässlich des Frauenkampftags 8. März, Versammlungen der kurdischen Frauenbewegung TJA, sowie einer Online-Veranstaltung zum Anstieg patriarchaler Gewalt während der Corona-Pandemie. Sollte das Gericht die Anklageschrift annehmen, wird ein Termin für den Prozessauftakt festgelegt. Bei einer Verurteilung drohen der Politikerin bis zu fünfzehn Jahre Haft.

Şevin Alaca befindet sich seit dem 8. Oktober in Untersuchungshaft. Sie war eine Woche zuvor bei einer provinzweiten Razzia festgenommen worden. Noch während sie sich in Polizeigewahrsam befand, ernannte das türkische Innenministerium einen Zwangsverwalter als Treuhänder im Rathaus von Qers. Die Ernennung von Zwangsverwaltern wird seit vier Jahren vom türkischen Staat als Waffe gegen die kommunale kurdische Selbstverwaltung eingesetzt. Das Regime nutzt zur Zerschlagung stets das gleiche Muster. Zunächst finden Razzien statt, Ko-Bürgermeister*innen werden festgenommen, Rathäuser umstellt und anschließend „Treuhänder“ ernannt.

Aus der 100-seitigen Anklageschrift gegen Alaca geht hervor, dass die Politikerin über Monate illegal abgehört worden ist. Die als Beweise beigefügten Gesprächsprotokolle enthalten unter anderem eine Unterhaltung der abgesetzten Bürgermeisterin über die Eröffnung eines Marktes ausschließlich für Frauen mit dem Ziel, die Frauenökonomie in Qers zu stärken. Aus der Frage Alacas gegenüber ihrer Gesprächspartnerin, wie eine Modenschau traditionell kurdischer Kleider bei der Markteröffnung gestaltet werden soll, konstruiert die Generalstaatsanwaltschaft „Handlungen für eine Terrororganisation”.

Şevin Alaca

Im Zusammenhang mit dem System der genderparitätischen Doppelspitze bei der HDP, wonach jeweils ein Mann und eine Frau das Bürgermeisteramt gemeinsam ausüben, wird Alaca vorgeworfen, sich wegen Amtsdelikten strafbar gemacht zu haben. Kriminalisiert werden auch Tänze bei der Frauenkundgebung am 8. März in Qers, an denen sich Alaca beteiligt haben soll, die Parole  „Jin, Jiyan, Azadî“ (Frauen, Leben, Freiheit), die sie dabei gerufen hätte, und das Wort „Kurdistan“, das die Politikerin bei Presseerklärungen verwendet habe. Auch der Empfang von Delegationen, die nach Qers reisten, darunter eine von der HDP-Vorsitzenden Pervin Buldan geleitete Abordnung, sowie Aktivitäten für die von der HDP initiierte Patenschaftskampagne für Familien, die in der Corona-Pandemie in Not geraten sind, werden von der Staatsanwaltschaft Qers als Beweise „terroristischer Taten“ gewertet.