Qers: Rezitation der Eroberungssure ist kein Zufall

Der Anwalt Ömer Çapkurt ist Mitglied des vom Zwangsverwalter aufgelösten Stadtrats in Qers. Er sagt, bei der Verlesung der Eroberungssure nach der Einsetzung des Zwangsverwalters handle es sich keineswegs um einen Zufall.

Über die nordkurdische Stadt Qers (türk. Kars) wurde nach der Festnahme beziehungsweise Inhaftierung der Ko-Bürgermeister*innen eine Zwangsverwaltung verhängt. Der Zwangsverwalter ließ den Stadtrat auflösen. Eines der Stadtratsmitglieder, der Rechtsanwalt Ömer Çapkurt, äußerte sich im ANF-Gespräch über die Entwicklungen in der Stadt.

Wie bewerten Sie als Politiker und Jurist die Operation gegen die Ko-Bürgermeister*innen und Politiker*innen in Qers?

Nach sechs Jahren hat die Generalstaatsanwaltschaft in Ankara 82 Personen, unter ihnen Abgeordnete der Demokratischen Partei der Völker (HDP), Ko-Bürgermeister*innen und Mitglieder des Parteiausschusses zur Festnahme ausgeschrieben. Einige der Festgenommenen sind bereits zuvor vernommen und dem Verfahren entsprechend verurteilt worden. Nach Paragraf 96 der Strafprozessordnung muss für eine erneute Festnahme eine neue Beweislage eingetreten sein. Es widerspricht jeder Lebenswirklichkeit, wenn in Bezug auf ein punktuelles Ereignis nach sechs Jahren neue Beweise aufgetaucht sein sollen. Damit entbehrt die Operation jeglicher Rechtsgrundlage und ist nur darauf ausgerichtet, die HDP aus politischen Gründen zu vernichten. Mit dieser Operation soll die HDP kriminalisiert, eingeschüchtert und aktionsunfähig gemacht werden. Der Führungsstab der AKP weiß ganz genau, dass er, solange es die HDP gibt, nicht mehr alleine herrschen kann.

Der Regierung hat die Ernennung eines Zwangsverwalters in Qers ja schon zuvor angekündigt. Sind diese Festnahme- und Inhaftierungsoperationen unabhängig davon zu betrachten?

Mit Sicherheit sind sie davon nicht unabhängig. Bei einer solchen Operation geht es jedoch um mehr als eine Sache. Neben dem, was ich zuvor schon beschrieben habe, ging es insbesondere bei der Festnahme des Ko-Bürgermeisters Ayhan Bilgen darum, die Situation in eine Gelegenheit zu verwandeln. Die MHP hatte ohnehin schon lange gefordert, dass in Qers ein Zwangsverwalter eingesetzt werden müsse.

Als die HDP in Qers gewann, wie war die Lage der Stadtverwaltung, insbesondere auch in Bezug auf Dienstleistungen?

Die Stadt ist zuvor von der MHP regiert worden. Dieses Interview reicht gewiss nicht aus, um die Korruption und den Raub, der damals stattgefunden hat, auch nur annähernd zu beschreiben. Das würde nicht einmal in ein Buch passen. Als die MHP begriff, dass sie eine so massive Korruption nicht verschleiern können würde, war sie gezwungen, ihren Bürgermeister des Amts zu entheben. Die Stadt war eine einzige Müllkippe. Drei Monate hatten die Angestellten der Stadtverwaltung kein Geld bekommen. Über 100 Personen haben Lohn erhalten, ohne jemals zur Arbeit zu erscheinen. Die HDP übernahm eine hochverschuldete Stadtverwaltung. Zunächst versuchte sie herauszufinden, um wen es sich bei den Karteileichen handelte, und entließ diese. Die Lohnrückstände wurden vollständig ausbezahlt. Es wurde klargestellt, dass die Firmen, die Aufträge erhalten hatten und nur so taten, als würden sie diese ausführen, kein Geld erhalten. Von Anfang an machte die Stadtverwaltung auf diese Weise Gewinn. Die Einnahmen und Ausgaben der Stadtverwaltung wurden offen präsentiert. Im Rathaus entstand eine Bibliothek, in den unversorgten Stadtvierteln entstanden Spielplätze und es wurde ein Plan zur Renovierung der Stadtteile gemacht. Insbesondere die Straßen wurden ausgebessert und Schutthaufen zum Teil schon beseitigt. Die Arbeiten gingen weiter bis zur Ernennung des Zwangsverwalters.

Wie reagierte die Bevölkerung von Qers auf die Einsetzung des Zwangsverwalters?

Die Bevölkerung protestierte gegen dieses Unrecht. Nicht nur die Wählerschaft der HDP, Menschen verschiedenster Ausrichtung protestierten in den sozialen Medien oder in Gesprächen. Sie sagen: Diebe und Räuber sind frei, diejenigen, die den Menschen helfen, sind im Gefängnis.

Nach der Ernennung des Zwangsverwalters fand ein Gebet statt, in dem die Eroberungssure gelesen wurde. Worum ging es Ihrer Meinung nach dabei?

Qers und Reşqelas [türk. Iğdır] haben für den türkisch-nationalistischen Flügel im Staat eine besondere Bedeutung. Denn es handelt sich um Städte, in denen Kurden, Türken und verschiedene andere Ethnizitäten zusammenleben, es sind Orte, in denen sich die Nationalisten im demografischen, ökonomischen, politischen und kulturellen Wettbewerb mit anderen Ethnizitäten sehen. Sie ertragen es meiner Meinung nach nicht, dass hier die kurdischen Farben, die Sprache und Identität sichtbar sind.

Als die DTP 2009 bei den Wahlen in Reşqelas gewann, erklärte der stellvertretende Ministerpräsident Cemil Çiçek: „Sie haben jetzt Iğdır und stehen nun direkt an der armenischen Grenze.“ Ihre Wut über den Wahlsieg der HDP in Qers ist ein weiteres Beispiel für diese Haltung. Die Ernennung des Zwangsverwalters an einem Freitag und die Verlesung der Eroberungssure bei dem vor das Rathaus verlegten Freitagsgebet ist eine offene Demonstration dieser Mentalität. Sie sehen sich als Eroberer. Sie stellen sich als Sieger über eine als staatsfeindlich betrachtete Kraft dar.

Wie ging der Zwangsverwalter mit dem Personal der Stadtverwaltung um?

Noch bevor der Zwangsverwalter ankam, wurde das Rathaus durchsucht und das Personal rausgeworfen. Nach fünf Tagen gibt es noch keine Information, wie es jetzt weitergeht. Wir werden sehen, was geschieht.