Tübingen: Bündnis „Solidarität mit Kurdistan“ besucht Parteien der Ampelkoalition

Das Tübinger Bündnis „Solidarität mit Kurdistan“ fordert eine Positionierung der Bundesregierung gegen Angriffe der Türkei und den Einsatz von Chemiewaffen in Kurdistan. Dazu besuchten Aktivist:innen die Büros der Parteien der Ampelkoalition.

Rund 20 Aktivist:innen des Bündnisses „Solidarität mit Kurdistan“ haben am Montag Vertreter der Ampel-Regierung in Tübingen besucht und sie mit dem Vorwurf konfrontiert, die Angriffe auf Kurdistan und die menschenrechtswidrige Verwendung chemischer Waffen zu ignorieren. Die Aktivist:innen fordern eine Reaktion der Ampel-Regierung auf die seit dem 19. November stattfindenden Angriffe des türkischen Staats auf Rojava (kurdische Gebiete in der Autonomieregion Nord- und Ostsyrien) und eine Solidarisierung mit der Revolution im Iran. Ziel der Aktion war es, ein Dossier mit Informationen zur Situation zu übergeben und eine klare Stellungnahme der Bundestagsabgeordneten einzufordern.

„Als Bürger:innen ist es unser demokratisches Recht, unsere Anliegen den Abgeordneten vor Ort vorzubringen und Handlungen zu fordern. Von diesem Recht machen wir Gebrauch, denn mit weltweitem politischem Druck kann dieser Angriff gestoppt werden“, betonte Jiyan Stiegler als Sprecherin des Bündnisses.

Gegen 10 Uhr wurde dem Büro des SPD-Bundestagsabgeordneten Martin Rosemann in der Karlsstraße ein Besuch abgestattet. Rosemann wurde mit den Vorwürfen an die Regierung und den Forderungen des Bündnisses konfrontiert. Es wurde auf die Dringlichkeit der Situation hingewiesen und ein offizieller Gesprächstermin für den Nachmittag um 17:30 Uhr vereinbart. In einer Stellungnahme teilte das Bündnis gegenüber ANF dazu mit:

Rosemann spricht sich gegen Flugverbotszone in Rojava aus

„Bei dem Gespräch fanden vor allem die Forderung nach einer Untersuchung der Giftgasangriffe durch die Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) Anklang bei Martin Rosemann und seinem Büroleiter Christian Reck. Er versprach sich dazu öffentlich zu positionieren und im Bundestag Wege zu finden, wie man Druck auf den NATO-Partner Türkei ausüben kann. Dazu hatte er bereits den außenpolitischen Sprecher Nils Schmid kontaktiert. Auch die Angriffe auf Zivilisten müssen aufhören, meinte er. Die Forderungen nach einer Flugverbotszone über Nord- und Ostsyrien, durch welche tödliche und häufig willkürliche Drohnenangriffe abzuwenden wären, wollte er jedoch nicht unterstützen. Ebenso wenig wollte er sich für eine Aufhebung des Verbots der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) einsetzen, welches es Erdoğ​​​​​an ermöglicht, die menschenrechtswidrigen Angriffe als ‚Kampf gegen den Terror‘ zu verkaufen, anstatt als einen Angriff auf ein demokratisches System. Martin Rosemann hatte im November eine Veranstaltung zu den Protesten im Iran und der Rolle der Frau organisiert. Die Aktivist:innen schlugen ihm vor, dass er doch daran anknüpfen könne und in einer Folgeveranstaltung über den Ursprung der Parole ‚Jin Jiyan Azadî‘, die Ereignisse in Kurdistan und die Verbindung zu den Protesten im Iran sprechen könne. Abschließend sagte der Bundestagsabgeordnete: ,Ich werde die Anregungen mitnehmen. Ich bin beeindruckt, was Sie alles wissen. Ich bin froh, dass Sie da waren, weil ich sehr viel gelernt habe.‘ Auch die Aktivist:innen waren zufrieden: ‚Der Austausch mit dem Bundestagsabgeordneten war konstruktiv. Wir warten gespannt, ob auf seine Worte nun auch Taten folgen.‘“

Grünen-Büro ebenfalls aufgesucht

Auch das Büro der Grünen in der Poststraße vom Bundestagsabgeordneten Chris Kühn wurde vom Bündnis „Solidarität mit Kurdistan“ besucht. Hier wurden allerdings nur Mitarbeiter:innen angetroffen. Dennoch ließen sich die Aktivist:innen nicht mit der Ausrede eines vollen Terminkalenders des Abgeordneten abwimmeln, mit welcher sich bereits zuvor Martin Rosemann der Verantwortung habe entziehen wollen. Sie bestanden auf einen Termin vor den Feiertagen. Das Büro stimmte zu und das Dossier wurde den Mitarbeiter:innen übergeben. Da die FDP in Tübingen für Bürger:innen nicht in Präsenz verfügbar ist, wurde die Mappe hier über dem Postweg zugestellt. Demnach stehe eine Stellungnahme hier noch aus.

„Wir hoffen, dass unsere Besuche dazu beigetragen haben, die Angriffe gegen Kurdistan und die illegale Anwendung von chemischen Waffen in den Blick der Öffentlichkeit zu rücken und die Politik diese verurteilt, anstatt dem NATO-Mitglied Türkei den Rücken freizuhalten und die menschenrechtswidrigen Angriffe zu ignorieren“, erklärte Jiyan Stieglitz im Anschluss. „In Tübingen sowie in vielen anderen Städten gibt es Parteibüros, bei denen man vorbeigehen und seine Anliegen vorbringen kann. Wir hoffen, dass wir mit unserer Aktion noch mehr Menschen in anderen Städten ermutigen können, von ihrem demokratischen Recht Gebrauch zu machen und eine Verurteilung der Angriffe zu fordern.“

Der Aktivist Milan sagte dazu: „Nur mit politischem Druck entsteht Veränderung. Wir als Bürger:innen haben die Ampel-Regierung unter anderem wegen ihren Versprechen gewählt, eine feministische Außenpolitik zu betreiben und fordern nun, dass diesen auch nachgegangen wird. Die EU sieht sich selbst als Unterstützerin von Demokratien. Doch in der jetzigen Situation sieht man klar und deutlich, dass die Solidarität der als Autokratie eingestuften Türkei gilt und nicht der demokratischen kurdischen Selbstverwaltung.“

Kritik an deutschen Medien

Die Türkei hat am Abend des 19. November eine neue Angriffswelle auf Rojava gestartet. Ziel der Angriffe ist es, die Selbstverwaltung Nord- und Ostsyriens, welche vor allem durch den erfolgreichen Kampf gegen den sogenannten Islamischen Staat (IS) 2015 internationale Bekanntheit erlangte, zu zerschlagen. Die türkische Armee geht bei ihren Angriffen gezielt gegen die zivile Infrastruktur vor, wie etwa die Strom- und Wasserversorgung. Auch die Kurdistan-Region Irak (Südkurdistan) ist von der gesteigerten Aggression betroffen.

Die Angriffe der Türkei intensivieren sich zu einer Zeit, in der die Regierung Erdoğans an Macht verliert und die Inflationsrate im Land stark ansteigt. Das Tübinger Bündnis wirft dem türkischen Präsidenten vor, mit den Angriffen auf den Norden von Syrien und dem Irak seine innenpolitische Position stärken zu wollen und die Kriminalisierung von Kurd:innen weiter voranzutreiben. „Auch deutsche Medien übernehmen unkritisch die Erzählung des türkischen Staates, welche die demokratische Selbstverwaltung in Rojava etwa als terroristische Bewegung darstellt, um die Angriffe zu rechtfertigen. Trotz dem vielfach belegten, illegalen Einsatz von Giftgas von Seiten der Türkei in Südkurdistan und den zahlreichen Angriffen auf zivile Infrastruktur in Rojava, hält Deutschland der Türkei den Rücken frei und liefert weiter Waffen. Auch ein Schulterschluss, wie ihn die Innenministerin Nancy Faeser kürzlich mit ihrem türkischen Amtskollegen Süleyman Soylu bei einem Besuch in der Türkei vollzog, während in Rojava Bomben auf Zivilist:innen und eine Covid-19-Klinik fielen, bestärkt die rassistische Politik der Türkei gegenüber Kurd:innen und trägt sie zurück nach Deutschland“, so das Bündnis.

Die Forderungen von „Solidarität mit Kurdistan“ an die Parteien der Ampelregierung lauten:

  • Verurteilen Sie öffentlich den Angriffskrieg der Türkei auf die AANES sowie den Nordirak.
  • Setzen Sie sich öffentlich und in Ihrer Partei dafür ein, dass die Bundesrepublik Deutschland bei der Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) eine Untersuchung der Chemiewaffenangriffe in Südkurdistan/Nordirak beantragt.
  • Unterstützen Sie öffentlich die Forderung der AANES nach einer Flugverbotszone in Nord- und Ostsyrien und unterzeichnen Sie die Erklärung von Women Defend Rojava dazu. #noflyzone4rojava
  • Setzen Sie sich öffentlich und in Ihrer Partei dafür ein, dass Deutschland ein Embargo über die Lieferung von Waffen und Waffenteilen an die Türkei und den Iran verhängt, sowie jegliche politische und wirtschaftliche Unterstützung der beiden Staaten unterlässt.
  • Setzen Sie sich öffentlich und in Ihrer Partei dafür ein, dass das Verbot der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), das immer wieder als Rechtfertigung für die Verfolgung und Unterdrückung kurdischer und demokratisch bewegter Menschen in Deutschland, der Türkei und ganz Kurdistan herhalten muss, aufgehoben wird.