TAJÊ: Seid die Stimme der Selbstverteidigung gegen Femizid

Zehn Jahre nach dem Völkermord in Şengal hat die ezidische Frauenbefreiungsbewegung TAJÊ eine internationale Kampagne gegen Femizid und für die Selbstverteidigung von Frauen weltweit ausgerufen.

Ezidische Frauenbewegung in Şengal

Die ezidische Frauenbefreiungsbewegung TAJÊ hat eine internationale Kampagne gegen Femizid und für die Selbstverteidigung von Frauen weltweit ausgerufen. Beginn der Offensive war am Weltfrauentag 8. März. Bis zum 3. August, dem zehnten Jahrestag des Genozids und Femizids in Şengal, sollen Stimmen von Frauen und Frauenorganisationen in dieser Kampagne zusammengebracht werden. Die TAJÊ lädt dazu ein, sich mit vielfältigen Methoden daran zu beteiligen, so etwa durch Fotos, Videos, Texte, Lieder, Gedichte, Kundgebungen und Demonstrationen.

In der Einladung werden fünf zentrale Forderungen der ezidischen Frauenbewegung genannt. So fordert die TAJÊ, dass Femizid als Kriegsverbrechen anerkannt wird und alle Täter und Unterstützer verurteilt werden. Das Recht von Frauen auf organisierte Selbstverteidigung muss gesellschaftlich und institutionell Akzeptanz finden. Das vom IS vor zehn Jahren in Şengal begangene Massaker muss auf allen Ebenen offiziell als Völkermord eingestuft und entsprechend verfolgt werden. Weiter fordert die TAJÊ die Anerkennung der nach 2014 in Şengal etablierten Selbstverwaltung und Sicherheitskräfte als legitime Vertretung und Verteidigung der Gemeinschaft. Als überlebensnotwendig wird zudem die Einstellung aller Angriffe auf die ezidische Gesellschaft eingefordert, vor allem der Luftangriffe durch den türkischen Staat.


Logo der Kampagne: Gegen Femizide - Seid die Stimme der Selbstverteidigung

„Lasst uns unsere Stimmen im Sinne von JIN, JIYAN, AZADÎ vereinen. Lasst uns unsere Stimmen gegen Femizid und für Selbstverteidigung erheben. Gemeinsam werden wir Rechenschaft für die Massaker an Frauen in Şengal und an jedem anderen Ort der Welt einfordern“, heißt es in dem in acht Sprachen veröffentlichten Aufruf:

An alle Frauen weltweit

Als TAJÊ (Tevgera Azadiya Jinên Êzidî), der Freiheitsbewegung der êzidischen Frauen, senden wir unsere Grüße und unseren Respekt an alle kämpfenden und widerständigen Frauen weltweit. An all die Frauen, die gegen die Gewalt gegen unsere Körper und Seelen aufstehen. An all die Frauen, die sich organisieren, um ein besseres Leben möglich zu machen. An all die Frauen, die ihre Leben, ihre Länder und ihre Kulturen verteidigen. Die Zeiten, in denen wir leben, sind voller brutaler Kriege und unmenschlicher Gewalt. Als Frauen werden wir geschlagen, vergewaltigt, verkauft, getötet und verbrannt. Unsere Länder werden besetzt und die Natur zerstört. Doch mit jedem neuen Angriff wird auch unser weltweiter Widerstand gegen Krieg, Gewalt und Femizid größer. Das gibt uns Hoffnung und Stärke. Unser Schmerz und unser Widerstand sind eins.

Zehn Jahre nach dem Genozid und Femizid in Şengal

Für uns als êzidische Frauen ist 2024 ein besonderes Jahr, denn der Genozid und Femizid durch den sogenannten „Islamischen Staat“ (Daesh) in Şengal jährt sich zum zehnten Mal. Am 3. August 2014 wurden zehntausende Êzid:innen getötet, entführt und versklavt. Kinder wurden als Kindersoldaten von Daesh zwangsrekrutiert. Darüber hinaus mussten hunderttausende Bewohner:innen Şengals aus ihrer Heimat fliehen. Unsere heiligen Orten wurden in die Luft gesprengt und dutzende Häuser zerstört. Doch trotz all dieser Gefahren blieben auch hunderte Familien in Şengal, bewaffneten sich und leisteten Widerstand gegen Daesh. Êzidische Männer und Frauen wurden Teil des Kampfes für die Befreiung Şengals und bauten ihre eigenen Verteidigungseinheiten Yekîneyên Berxwedana Şengalê (YBŞ; Verteidigungseinheiten Şengals) und Yekîniyên Jinên Şengalê (YJŞ; Frauenverteidigungseinheiten Şengals) auf.

Ausdruck patriarchaler Gewalt

In allen Kriegen und Genoziden sind Frauen am meisten betroffen. Die Assimilation und Ermordung von Frauen wird als Mittel genutzt, um die Identität, Kultur und den Glauben einer Gesellschaft auszulöschen. Als 2014 Frauen von Daesh entführt wurden, wurden sie vergewaltigt, als Sklavinnen verkauft und/oder dazu gezwungen, dschihadistische Kämpfer zu heiraten. Bis heute befinden sich immer noch 2.941 Menschen, die meisten davon Frauen und Kinder, in Gefangenschaft des sogenannten „Islamischen Staats“. Die genozidalen und femizidalen Angriffe in Şengal sind eine tiefe Wunde in unseren Herzen. Wir sehen sie als Ausdruck patriarchaler Gewalt und damit als Angriffe gegen alle Frauen weltweit.

Täter und Unterstützer müssen verfolgt werden

Wir akzeptieren nicht, dass der „Islamische Staat“, die PDK und auch der türkische Staat bis heute von keinem Staat oder internationaler Institution für die Durchführung und Unterstützung systematischer Verbrechen gegen unsere Gesellschaft verurteilt wurden. Die Verteidigung Şengals lag 2014 unter der Kontrolle der KRG (Regierung der Kurdistan-Region im Irak) und ihrer regierenden Partei PDK (Demokratische Partei Kurdistans). Doch als Daesh die ersten Dörfer angriff und besetzte, flohen die 12.000 stationierten PDK-Peschmerga aus Şengal, ohne auch nur eine einzige Kugel zu verschießen. Damit lieferten sie unsere Gesellschaft schutzlos dem „Islamischen Staat“ aus. Wir fordern, dass die Verantwortung aller Staaten und Parteien geprüft und (juristisch) verfolgt wird.

Wir organisieren uns auf Grundlage der Ideen Abdullah Öcalans

Der Genozid und Femizid von 2014 hat viel Schmerz, schwere Traumata und tiefe Verluste in unsere Gemeinschaft hinterlassen. Doch heute ist dieser Schmerz der Nährboden für unseren Widerstand. Viele Kämpfer:innen haben für die Verteidigung unserer Heimat und unserer Gemeinschaft ihr Leben gegeben. Wir nennen sie Şehîd. Sie sind unser Licht und unsere Hoffnung. Nach 2014 haben die Menschen in Şengal angefangen, sich in allen Bereichen des Lebens auf der Grundlage der Ideen Abdullah Öcalans selbst zu organisieren. Als êzidische Frauen haben wir mit der Philosophie von JIN, JIYAN, AZADÎ die Freiheitsbewegung TAJÊ aufgebaut. Voller Stolz können wir sagen, dass die Mütter Şengals heute die Vorreiterschaft unseres Widerstands darstellen. Wir organisieren uns in Frauenräten und arbeiten in verschiedenen Bereichen, darunter Kultur, Gesundheit, Wirtschaft, Medien und Diplomatie.

Die YJŞ sind unser größter Stolz

Kämpferinnen der YJŞ

Unsere Geschichte ist eine Geschichte des Kampfes und des Widerstands. Doch sie ist auch eine Geschichte, in der 74 Genozide (Ferman) gegen unsere êzidische Gemeinschaft verübt wurden. Sie hat uns gelehrt, dass wir nicht auf den Schutz von außen vertrauen können. Nach dem Genozid von 2014 haben wir deswegen unsere eigenen Verteidigungseinheiten YBŞ und YJŞ und die Asayîş Êzidxanê als Sicherheitskräfte der Gesellschaft aufgebaut. Die YJŞ sind eine militärische Struktur, die ausschließlich aus Frauen besteht. Sie sind unser größter Stolz. Heute wissen wir uns als êzidische Frauen selbst zu verteidigen. Das ist unsere Rache gegen all den Schmerz, den wir erleiden mussten.

Luftangriffe und diplomatischer Druck

Doch auch zehn Jahre nach dem Genozid und Femizid gehen die Angriffe gegen unsere Gesellschaft in Şengal weiter. Der türkische Staat verübt mit Unterstützung der PDK immer wieder Luftangriffe, sowohl gegen Mitglieder unserer militärischen Strukturen als auch gegen Zivilist:innen. Dutzende unserer Brüder und Schwestern wurden seit 2017 durch diese Luftangriffe ermordet. Darüber hinaus versuchen der irakische Staat und die PDK unsere Selbstorganisierung und Selbstverwaltung durch diplomatischen Druck zu zerstören. Ein Beispiel dafür ist das sogenannte „Sinjar-Abkommen“ vom 9. Oktober 2020. Wir sagen, dass unterdrückte Völker, Gesellschaften und Glaubensgemeinschaften das Recht haben, sich gegen Genozid und Femizid zu verteidigen. Wir sehen die Selbstverteidigung der Gemeinschaft und besonders der Frauen in Şengal als legitime Verteidigung gegen die drohende Auslöschung an.

Gegen Nationalismus, religiösen Fundamentalismus und Sexismus

Als Freiheitsbewegung der êzidischen Frauen, TAJÊ, und als Frauenverteidigungseinheiten Şengals, YJŞ, kämpfen wir aktiv gegen Nationalismus, religiösen Fundamentalismus und vor allem gegen Sexismus, sodass in Zukunft keine Frau, kein Volk und keine Gemeinschaft mehr einen Genozid und Femizid erleben muss. Wir glauben, dass wir in den Ländern, in denen wir leben, nur dann Demokratie, Freiheit und Frieden erreichen können, wenn wir als Frauen auf der Grundlage von Selbstbestimmung und einem freien Willen voranschreiten. Die beste Antwort, die wir auf die gegen êzidische Frauen verübten Grausamkeiten geben können, ist die Solidarität und Organisierung aller Frauen weltweit. Im Jahr 2024 werden wir deswegen unsere Stimmen gegen Femizid und für Selbstverteidigung noch lauter erheben.

Unsere Forderungen

Wir fordern, 1. dass Femizid als Kriegsverbrechen anerkannt wird und alle Täter, die systematische Ermordungen von Frauen verüben oder unterstützen, verurteilt werden. 2. dass das Recht von Frauen, die Verteidigung ihrer Leben, ihrer Länder und ihrer Kulturen zu organisieren, von allen Gesellschaften und Institutionen anerkannt wird. 3. dass der Genozid von 2014 offiziell als Genozid anerkannt wird. Das beinhaltet auch die Auseinandersetzung mit und Verurteilung aller Täter und Unterstützer, inklusive Daesh, PDK, der Türkei und des Iraks. 4. dass unsere Selbstverwaltung in Şengal sowie unsere Selbstverteidigungseinheiten YBŞ, YJŞ und Asayîş Êzidxanê als legitime Vertretung und Verteidigung unserer Gesellschaft anerkannt werden. 5. dass alle Angriffe gegen unsere Gesellschaft, vor allem die Luftangriffe durch den türkischen Staat, beendet werden.

Gemeinsam im Sinne von JIN JIYAN AZADÎ!

Vom 8. März 2024, dem Internationalen Frauenkampftag, bis zum 3. August 2024, dem zehnten Jahrestag des Genozids und Femizids in Şengal, werden wir deswegen die Stimmen, Unterschriften und Unterstützung von vielen verschiedenen Frauen und Frauenorganisationen sammeln. Wir rufen alle Frauen weltweit dazu auf: Lasst uns unsere Stimmen im Sinne von JIN, JIYAN, AZADÎ vereinen. Lasst uns unsere Stimmen gegen Femizid und für Selbstverteidigung erheben. Gemeinsam werden wir Rechenschaft für die Massaker an Frauen in Şengal und an jedem anderen Ort der Welt einfordern.