Sexualisierte Gewalt ist seit Bestehen der Republik Türkei ein Teil ihrer Kriegsstrategie gegen die kurdische Bevölkerung. Mit dem Beginn des nun seit 50 Jahren andauernden Freiheitskampfes, angeführt von der apoistischen Bewegung, hat die Verwendung von sexualisierter Gewalt als Terrorinstrument massiv zugenommen. Insbesondere in den 90er Jahren wurde im Gewahrsam von Militär und Polizei systematisch sexualisierte Gewalt angewendet, um die Betroffenen, vor allem Frauen, aber auch Männer, zu brechen und die Gesellschaft zu zerstören. Teil dieser Politik ist auch das sogenannte Dorfschützersystem. Diese regierungstreuen Paramilitärs werden durch Straflosigkeit ermutigt, jegliche Verbrechen zu begehen. Eng verwickelt mit der organisierten Kriminalität sind sie verantwortlich für Vertreibungen, bewaffnete Angriffe auf die Zivilbevölkerung sowie Bedrohung und Erpressung. Neben extralegalen Morden gehört sexualisierte Gewalt zu den schwersten Vergehen der Dorfschützer. Dabei wird nur ein Bruchteil der Fälle erfasst. Unter Ausnutzung sozialer Tabus, Scham und Angst verschleiern die Dorfschützer ihre Taten und bekommen tatkräftige Unterstützung von Justiz, Polizei und Militär. Die Dunkelziffer wird auf mehrere Hundert Taten geschätzt, die jedoch vom Staat und Militär vertuscht werden.
Die Fälle, die nicht vertuscht werden können, werden vor Gericht gebracht, aber auch hier führen diese in der Regel zu praktisch keinen Strafen. In den letzten zwei Jahren wurden in Wan sechs Vergewaltigungsfälle öffentlich bekannt, von denen nur einer zu einer dauerhaften Inhaftierung führte. Die anderen Täter wurden nach kurzer Zeit aus dem Gefängnis entlassen.
Die Angriffe werden verschleiert
Die Frauenrechtlerin Zozan Özgökçe äußert sich im ANF-Gespräch über die Gewalt der Dorfschützer und die Straflosigkeit ihrer Taten. Sie erinnert daran, dass die Vergewaltigung seit Jahren eine Kriegsmethode der Dorfschützer, der paramilitärischen Kräfte und der bewaffneten oder unbewaffneten Bürokratie des Staates ist. Özgökçe sieht in den aktuellen Entwicklungen eine Folge der militaristischen Politik und sagt: „Das war auch in den 1990er Jahren so. Auch wenn sich die Form ändert, wird die gleiche Politik permanent fortgesetzt. In den 90er und frühen 2000er Jahren wurde psychologische, physische und sexuelle Gewalt gegen Frauen vor allem in den Gefängnissen angewandt, um sie über ihre Körper und ihr Kurdischsein zu entwürdigen und zu zerstören.
Frauenrechtlerin Zozan Özgökçe
Eine solche Politik herrscht in allen vier Teilen Kurdistans vor. Saddam Hussein hatte spezielle paramilitärische Kräfte, die für die ‚Entehrung von Frauen‘ verantwortlich waren. Dies war ihr Auftrag. Frauen werden seit Jahren als Trophäen in Kriegen betrachtet. Derzeit gibt es einen seit Jahren anhaltenden Konflikt. Frauen sind Teil dieses Konflikts und davon stark betroffen."
Zozan Özgökçe erinnerte an den Fall von N.Ç. im Jahr 2002 und sagte: „Mit diesem Vorfall kamen die Übergriffe und Vergewaltigungen durch Dorfschützer und Sicherheitskräfte auf die Tagesordnung, und es wurden Berichte veröffentlicht. Aber es geschieht permanent und wird vertuscht. Das Justiz- und Rechtssystem wird immer schlimmer. Bei dem Vorfall von N.Ç. waren die Täter bekannt, aber niemand wurde verhaftet. Das war tatsächlich der Fall. Auch in jüngster Zeit kam es zu sexuellen Übergriffen durch Dorfschützer. Wir verwenden oft den Begriff ‚jüngste Zeit‘, vielleicht tun wir das, um es auf die Tagesordnung zu setzen. Oder unser soziales Trauma wird immer wieder aufgefrischt und wir sagen ‚kürzlich‘. Aber die Frauen erleben diese Gewalt und die Straflosigkeit schon seit Jahren. Dorfschützer werden nicht verhaftet, es gibt keine rechtlichen Schritte gegen sie. Bei Mädchen, die sexuell missbraucht werden, wird nach der Einvernehmlichkeit gefragt, nach der Jungfräulichkeit. Es gibt viele Arten von sexuellen Übergriffen auf Frauen, aber sie werden nur anhand der Jungfräulichkeit analysiert. Aber zum Beispiel ist auch das Verbreiten von Gerüchten in den Dörfern eine Form von Gewalt. Der Dorfschützer oder sein Sohn wollen heiraten, wenn die Familie des Mädchens das nicht will, übt der Dorfwächter politischen und psychologischen Druck auf die Familie aus.“
„Die Frauen bezahlen mit ihrem Leben“
Die Frauenrechtlerin fährt fort: „Unser Volk wird so in Ohnmacht gestürzt. Aufgrund des Dorfschützersystems migrieren die Menschen aus ihren Dörfern in die Großstädte. Es herrscht ein psychologischer und asymmetrischer Krieg. Leider sind die kurdischen Frauen häufiger Opfer, sie sind verletzlicher und tragen schwerwiegendere Konsequenzen. Sie bezahlen für die Folgen des Systems mit ihrem Leben. Alle müssen sensibel sein, denn es handelt sich um eine Kriegspolitik. Wir müssen füreinander sorgen. Wir können rechtliche Schritte einleiten und als Öffentlichkeit Druck ausüben."
Zozan Özgökçe fordert, dass kurdische Akademiker:innen, Nichtregierungsorganisationen, Journalist:innen und Menschenrechtsaktivist:innen ernsthafte Untersuchungen durchführen sollten: „Das kurdische Volk sollte für dieses Thema sensibilisiert werden, Mädchen sollten ihre Rechte kennenlernen. Die Familien müssen ihre Kinder schützen. Die Dorfschützer wenden verschiedene Methoden an. Beispielsweise wollen sie eine Frau ins Dorf bringen, sie wollen ihre Kinder verheiraten, aber wenn das nicht funktioniert, kommt es zu sexuellen Übergriffen. Wenn man die Armut der Menschen in diese Situation einbezieht, dann versteht man die Verzweiflung in der Gesellschaft.“
Die gemeldeten Fälle der letzten zwei Jahre
In den letzten zwei Jahren wurden in Wan folgende Fälle von sexualisierter Gewalt durch Dorfschützer gemeldet:
Am 23. Dezember 2021 vergewaltigte der Dorfschützer Faik Dural in Repetik (tr. Öveçli) im Bezirk Payîzava (Gürpınar) in Wan ein 15-jähriges Mädchen, das das Internat Hoşap besuchte. Aufgrund der Anzeige der Familie des Opfers wurde Faik Dural unter dem Vorwurf des „sexuellen Missbrauchs einer Minderjährigen“ verhaftet. Anschließend setzten Dural und seine Verwandten die Familie und das Opfer unter Druck, wodurch diese ihre Anzeige zurückzog. Die Bezirksdirektion für Nationale Bildung in Gürpınar zog ebenfalls ihren Bericht zurück und behauptete, das in der Meldung erwähnte Mädchen besuche keine staatliche Schule. Der Vergewaltiger Faik Dural wurde nach kurzer Haft entlassen.
Im Jahr 2021 wurde ein 12-jähriges Mädchen im Bezirk Şax (Çatak) in Wan vom Dorfschützer Rıskı Okam vergewaltigt. Der Vorfall wurde aufgedeckt, als das Kind seiner Klassenlehrerin von seinen Erlebnissen erzählte. Der Täter wurde daraufhin festgenommen. Anschließend übten die Verwandten des Dorfschützers ebenfalls Druck auf die Familie des Kindes aus und zwangen sie dazu, ihr Dorf zu verlassen. Okam wurde zu 50 Jahren Haft verurteilt. Die Berufung in diesem Verfahren steht noch aus, und es besteht die Befürchtung, dass das Verfassungsgericht dieses Urteil aufheben könnte.
Im Jahr 2022 verübte der Dorfpolizist Ziya Karakoç im Dorf Arîxan (Bozyığıt) im Bezirk Payîzava sexuelle Übergriffe auf etwa zehn Frauen des Dorfes. Diese Übergriffe wurden jedoch von der militärischen und politischen Bürokratie vertuscht. Karakoç wurde bereits bei der ersten Anhörung unter Auflagen der Justizkontrolle freigelassen.
Am 3. Februar 2022 wurde Osman Ö., ein Dorfschützer, der versucht hatte, seine beiden Töchter im Bezirk Şax in Wan zu vergewaltigen und seine Frau mit einer Waffe bedroht hatte, um sie davon abzuhalten, Anzeige zu erstatten, nach kurzer Haft wieder freigelassen.
Am 18. August 2023 vergewaltigte der Dorfschützer B.A. eine Frau. B.A. wurde festgenommen und aufgrund der Anzeige der Frau zur Militärpolizeistation Köprüağzı gebracht.