Mûş: Sexualisierte Gewalt in Korankurs
Nach dem verdächtigen Tod eines Kindes in einem Korankurs in Mûş sind mehrere sexualisierte Gewalttaten durch Religionsgelehrte ans Licht gekommen.
Nach dem verdächtigen Tod eines Kindes in einem Korankurs in Mûş sind mehrere sexualisierte Gewalttaten durch Religionsgelehrte ans Licht gekommen.
Am 3. Juli wurde der zwölfjährige M.H.Y. im Korankursinstitut in der nordkurdischen Provinzhauptstadt Mûş (tr. Muş) erhängt auf einer Toilette aufgefunden. Der Junge verstarb am 14. Juli im Krankenhaus. Die Familie spricht von einem geplanten Mord und weist Selbstmordtheorien zurück, denn der Junge hätte sich gar nicht selbst mit einem Gürtel am Türgriff strangulieren können. Auch die Ärzte zweifeln am Suizid.
Fälle von sexualisierter Gewalt
Der Hintergrund der Tat ist noch nicht geklärt, die Behörden haben über das mutmaßliche Verbrechen eine Geheimhaltungsverfügung verhängt. Viele Eltern sind besorgt über die Situation. In der Region gibt es keinerlei Kontrolle über die Korankurse und es kommt immer wieder zu neuen Fällen von sexualisierter Gewalt. Die Bevölkerung in der Region spricht von systematischer Vertuschung dieser Gewaltakte.
Sexualisierte Gewalt gegen drei Jungen
So kam ans Licht, dass erst vergangenes Jahr in einer Koranschule im kurdischen Dorf Kod (Tan), ebenfalls in der Provinz Mûş, drei Jungen sexuell angegriffen wurden. Der Täter wurde festgenommen und verhaftet. Anschließend nahmen viele Eltern ihre Kinder aus den Kursen. Der Fall kam aber nur aufgrund der Beharrlichkeit der Mutter eines der Betroffenen ans Licht. Nachdem ihr Sohn nicht zum Korankurs gehen wollte und ständig weinte, brachte ihn die Mutter dazu, sein Schweigen zu brechen und von der sexualisierten Gewalttat zu berichten. Dies stellt aber nur die Spitze des Eisbergs dar, denn die Kinder trauen sich häufig nicht, mit ihren Eltern über das Erlebte zu reden. Dorfbewohner:innen erklären, die Eltern würden immer wieder von den Koranschulen überredet, ihre Kinder in die Kurse zu schicken.
Familie wird mundtot gemacht
Diese Geschehnisse wurden vor den Medien verborgen und die Familie in dieser Hinsicht unter Druck gesetzt. Auch der Antrag der Familie beim Religionsamt Muş blieb erfolglos. „Der Täter wurde verhaftet, was wollt ihr noch?“, habe es auf dem Amt geheißen. Den Familien sei nahegelegt worden, sie sollten das Thema nicht „auswalzen“. Tatsächlich wurde die Familie eines Jungen, der den Vorfall in den digitalen Netzwerken geteilt hatte, unter Druck gesetzt und der Beitrag entfernt. Die Dorfbewohner:innen, die aus Sicherheitsgründen ihre Namen nicht nennen wollten, hatten um eine Intervention bezüglich des Korankurses gebeten. In dieser Koranschule erhalten etwa 500 Kinder nicht nur Koranunterricht, der Kurs dient auch als Unterrichtsstätte.
Religionsbehörde legitimiert sexualisierte Gewalt an Minderjährigen
Dass fast im Wochentakt neue Fälle sexualisierter Gewalt an vom Staat kontrollierten religiösen Einrichtungen auftauchen, kommt nicht von ungefähr. Regierung und Religionsbehörde agieren Hand in Hand bei der Legitimierung von sexualisierter Gewalt. Erst Anfang Juli hat die Regierung erneut ein Gesetz eingebracht, demzufolge Täter straffrei bleiben, wenn sie die minderjährigen Überlebenden ihre Vergewaltiger heiraten. Dieses als „Missbrauchsamnestie“ bekannte Gesetz liegt der Regierung sehr am Herzen, so versuchte sie es bereits 2016 und 2020 durchzusetzen. Auch die Staatsmedien sind an der Legitimierung von sexualisierter Gewalt an Kindern und Jugendlichen beteiligt. So wurden im vergangenen September im Fernsehsender Akit TV von einem Professor unkritisiert Äußerungen getätigt wie: „Im Alter von 12 bis 17 Jahren ist der Körper der Frau am besten für die Geburt geeignet, es handelt sich um ‚Superfrauenkörper‘. Sie können jeden Arzt dazu fragen.“
Neues Gesetz behindert Aufklärung sexualisierter Gewalt
In der Türkei und Nordkurdistan kommen immer neue Fälle von sexualisierter Gewalt ans Licht. Doch die Verfolgung der Täter wird immer schwieriger gemacht. Die Ratifizierung des 4. Gesetzespakets am 9. Juli beinhaltet einen regelrechten Täterschutzparagraphen, nachdem Ermittlungen wegen sexualisierter Gewalt nicht mehr zur Inhaftierung des mutmaßlichen Täters ausreichen, wenn nur ein „starker Verdacht“ gegen diesen vorliegt. Stattdessen werden „konkrete Beweise“ zur Voraussetzung für die Verhängung von Untersuchungshaft gemacht.