Der kurdische Aktivist Mehmet Çakas steht seit Anfang September vor dem Oberlandesgericht Celle. Dem 44-Jährigen wird von der Generalstaatsanwaltschaft Celle die Mitgliedschaft in der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) vorgeworfen, nach §129a/b StGB eine „terroristische Vereinigung im Ausland“.
Zum vierzehnten Prozesstag in der vergangenen Woche hatte der Staatsschutzsenat Dr. Günter Seufert als Sachverständigen geladen. Seufert ist ehemaliger Leiter des Centrums für angewandte Türkeistudien (CATS) der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) und wurde zuletzt auch als Sachverständiger im Prozess gegen Kenan Ayaz angehört. In seiner früheren Position hat Seufert viel Politikberatung betrieben und auch die Bundesregierung beraten, da die SWP - wie er bereits in Hamburg angab - zu 95 Prozent vom Bundeskanzleramt finanziert wird. Inzwischen ist er im Ruhestand, aber immer noch an Forschungsprojekten beteiligt.
Der Sachverständige war vom Gericht beauftragt worden, ein Gutachten zu der Entstehung und Entwicklung des „Kurdenkonflikts“ sowie zur Ideologie und den Zielen der PKK und KCK und deren Organisation und Finanzierung und zu den Anschlägen der HPG anzufertigen. Das zuvor schriftlich eingereichte Gutachten wurde jedoch nicht in vollem Umfang im Prozess vorgetragen.
„Rolle des deutschen Staates ausgeblendet“
„Deutlich wurde recht schnell die eurozentristische Haltung und die Ausblendung der Rolle des deutschen Staates in diesen Fragen. So wurde beispielsweise die Gründung der Republik Türkei und die Rolle Deutschlands darin völlig unberührt gelassen. Zur Zeit des Genozids an den Armenier:innen arbeiteten das deutsche und türkische Militär eng zusammen. Der Völkermord war im Deutschen Reich nicht nur bekannt, sondern deutsche Militärs waren an der systematischen Vernichtung des armenischen Volkes beteiligt. Diese Kontinuität lässt sich bis in die heutige Politik der Bundesregierung nachverfolgen, die weithin die genozidale Politik des türkischen Staates unterstützt. So werden aus Deutschland weiterhin Waffen in die Türkei geliefert und die kurdenfeindliche Politik wird auch hierzulande praktiziert“, erklärte eine Prozessbeobachterin gegenüber ANF und verwies auf einen FAZ-Artikel über den Besuch des türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoǧan, der sich persönlich bei Bundeskanzler Olaf Scholz für das Verfahren gegen Kenan Ayaz in Hamburg bedankte:
„Der Besuch in der deutschen Hauptstadt habe ‚ein neues Kapitel unserer tiefen Beziehungen aufgeschlagen‘, sagte Erdoğan. Er zeigte sich erfreut über einen Strafprozess vor dem Oberlandesgericht Hamburg gegen einen mutmaßlichen Funktionär der kurdischen Terrorgruppe PKK. Der Mann war auf Betreiben der Bundesanwaltschaft in Zypern festgenommen und nach Deutschland ausgeliefert worden.“
Es gebe jedoch immer mehr Menschen, die dem der Freiheitsbewegung Kurdistans anhaftenden Terrorstigma nicht mehr glauben, so die Prozessbeobachterin: „Es zeichnet sich unstrittig ab, dass die Revolution in Rojava (Westkurdistan, Nord- und Ostsyrien) und die demokratische Bewegung in Bakur (Nordkurdistan, türkisches Staatsgebiet) auf einer breiten Massenbasis aufbauen und damit die stärkste demokratische Kraft im Nahen Osten darstellen. Da diese Entwicklungen nicht mehr von der Hand zu weisen sind, reichen zur Steuerung des öffentlichen Diskurses nicht allein die plumpen Verallgemeinerungen der Beamten zu Beginn des Verfahrens. Hier kommen andere Ideologen ins Spiel, sehr subtil spielte Seufert mit verschiedenen Narrativen und ließ die Widersprüchlichkeit seiner eigenen Aussagen ganz bewusst unkommentiert. Fragen wir uns, in welcher Rolle nun vermehrt Wissenschaftler:innen aus regierungsnahen sogenannten think-tanks zu Prozessen herangezogen werden, können wir sehen, dass die Mittel zur Aufrechterhaltung dieses Narrativs schon recht tief ausgeschöpft sind. Es zeigt den Charakter der sogenannten wissenschaftlichen Neutralität, dass sie sich nicht von eurozentristischen Denkweisen lösen kann. Die Widersprüchlichkeit darin zeigt sich beispielhaft anhand Seuferts Analyse darüber, dass es ,natürliche' und ,unnatürliche' Staaten gibt, wobei die Staaten im Nahen Osten aufgrund ihrer ,Unnatürlichkeit' zur Assimilationspolitik gezwungen seien."
Erschwerte Haftbedingungen: Islamist als Zellennachbar
Zum Ende des vierzehnten Prozesstages wurde durch die Verteidigung mittels eines Antrages öffentlich gemacht, dass der Angeklagte in seiner Haftzeit in Italien mit einem Islamisten zusammen untergebracht war. Dieser Zustand veränderte sich auch dadurch nicht, dass Mehmet Çakas die Gefängnissleitung auf das Problem hinwies und um Verlegung bat. Ganze zehn Wochen bis zu seiner Auslieferung nach Deutschland musste er in diesen widrigen Umständen verbringen. Die Verteidigung beantragte, diesen Umstand im Strafmaß zu berücksichtigen.
Bei der nächsten Verhandlung am Dienstag gab die Oberstaatsanwältin eine Stellungnahme ab, in der sie den Antrag der Verteidigung kommentierte. Die erschwerten Haftbedingungen in Italien im Strafmaß zu berücksichtigen, tat sie als „nicht erforderlich" ab. Ideologische Unterschiede innerhalb einer Zelle seien keine Besonderheit und weder struktureller noch systematischer Natur. Die Verteidigung wiederum kommentierte diese Stellungnahme als „bedenklich". Nicht die Tatsache, dass der Mithäftling des Angeklagten ein Islamist war, sei eine systematische Bedrohung, sondern die Tatsache, dass sie nicht getrennt wurden.
Besonders ironisch scheint auch die Einordnung der Staatsanwältin zum Antrag, da die deutsche Justiz es bei der Unterbringung von Mehmet Çakas sehr wohl als erforderlich befand. Er wurde nicht im Hochsicherheitsgefängnis in Celle untergebracht, in dem bereits ein Mitglied des IS inhaftiert ist.
Foto: Solidaritätskundgebung zum Prozessauftakt am 4. September 2023