Seufert: „Ich will das Verhältnis Erdoǧans zum IS nicht kommentieren“

Im Prozess gegen den kurdischen Aktivisten Kenan Ayaz vor dem OLG Hamburg wurde der vom Strafschutzsenat geladene Sachverständige Günter Seufert angehört. Der Angeklagte stellte kritische Nachfragen.

Am 5. Dezember sagte Dr. Günter Seufert erstmals als Sachverständiger in dem Verfahren gegen Kenan Ayaz vor dem OLG Hamburg aus. Es ist das erste Mal, dass der ehemalige Leiter des Centrums für angewandte Türkeistudien (CATS) der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in einem Verfahren gegen einen kurdischen Aktivisten als Sachverständiger gehört wird. In seiner früheren Position hatte der Sachverständige viel Politikberatung betrieben und auch die Bundesregierung beraten, da die SWP - wie er angab - zu 95 Prozent vom Bundeskanzleramt finanziert wird. Inzwischen sei er im Ruhestand, aber immer noch an Forschungsprojekten beteiligt.

Der Sachverständige war vom Gericht beauftragt worden, ein Gutachten zu der Entstehung und Entwicklung des „Kurdenkonflikts“ sowie zur Ideologie und den Zielen der PKK und KCK und deren Organisation und Finanzierung und zu den Anschlägen der HPG anzufertigen. Seufert hatte ein schriftliches Gutachten vorbereitet, das er teilweise vorlas und teilweise zusammenfasste.

Der Sachverständige begann seinen Bericht mit der Geschichte des Konflikts und erwähnte dabei die den Kurd:innen gemachten Autonomieversprechen vor der Gründung der Republik Türkei, die radikale Abkehr von diesem Versprechen und die Erhebung der Gleichsetzung von Staatsangehörigen mit Türken zur türkischen Staatsdoktrin, den Völkermord an den Kurd:innen in Dersim und die Rolle, die die grausame Unterdrückung im Militärgefängnis von Amed (tr. Diyarbakir) bei der Entwicklung der PKK gespielt hat. Er sprach auch über die Unmöglichkeit einer legalen kurdischen Politik, die zahlreichen Parteiverbote und die KCK-Prozesse, mit denen die Gülen-Bewegung die kurdische Zivilgesellschaft kriminalisiert und versucht hatte, die damals noch geheimen Friedensverhandlungen zwischen der Regierung und der PKK zu torpedieren. Des Weiteren berichtete er über das System der KCK und die in Rojava erfolgte Umsetzung des Konzepts des demokratischen Konföderalismus. In seinem Bericht wurde seine sehr kritische Haltung gegenüber der PKK und der KCK deutlich. Auffallend war, dass er häufig eine sehr starke Meinung vertrat oder Wertungen vornahm, aber auf Nachfragen nicht immer Quellen dafür nennen konnte.

Nach Fragen vom Gericht und der Bundesanwaltschaft befragte auch Kenan Ayaz den Gutachter. Er begann damit, ihm für seine Arbeit zu danken, hinterfragte dann jedoch seinen Ansatz, die kurdische Frage mit der PKK gleichzusetzen. Er fragte nach der kurdischen Geschichte, die bis zu den Sumerern zurückreiche, und stellte die Darstellung des Gutachters in Frage, wonach die Niederschlagung kurdischer Aufstände wie der von Şêx Seîdê Pîran ein Kampf des modernen türkischen Nationalstaates gegen zurückgebliebene, religiös-konservative kurdische Stämme gewesen seien, die nur das Kalifat zurückhaben wollten. Diese Version der Geschichte wird auch in türkischen Schulbüchern verbreitet. Der Sachverständige musste in seiner Antwort darauf hinweisen, dass er kein Historiker sei und es durchaus unterschiedliche wissenschaftliche Meinungen über den Auslöser dieser Aufstände gäbe.

Nach Fragen zu dem Lausanner Vertrag, den der Sachverständige gar nicht in seiner Darstellung erwähnt hatte, sagte Kenan Ayaz: „Damit wir das Problem lösen können, müssen wir das Problem richtig beschreiben. Ich habe in Midyat gelebt, dort lebten Assyrer, Eziden, Araber und Kurden zusammen. Es war eine Miniaturgesellschaft des Nahen Ostens. Aber dann, als der Nationalstaat und der Islamismus aufkamen, fingen diese Völker an, sich gegenseitig an die Gurgel zu gehen. Würden sie mir da zustimmen?“ Darauf antwortete der Sachverständige: „Das ist nicht nur ein Problem der Kurden, sondern aller Völker im Nahen Osten. Da muss man weg von der Politik: eine Sprache, eine Nation, eine Identität. Man muss weg von der Idee einer Nation. Die EU ist ja ein gutes Modell. In der EU haben alle Staaten ihre Eigenheiten, die sie bewahren. Nach dem großen Krieg ist man zu dieser Lösung gekommen.“

Auf die anschließende Frage, warum die EU dieses Modell nicht auch als Lösung für die Völker des Nahen Ostens ansehe, antwortete er: „Ich denke, Sie haben Recht. Die Europäer haben den Nationalismus und den Nationalstaat erfunden, sie haben diese Idee auf die Spitze getrieben und deshalb versuchen sie jetzt mit der EU, sich aus diesen nationalstaatlichen Zwängen zu befreien. Ich glaube aber auch, dass wir ein grundsätzliches Problem haben, wie Sie richtig sagen. Wir hatten verschiedene Modelle in allen Regionen des ehemaligen Osmanischen Reiches: Wir hatten in der Türkei den assimilierenden Nationalstaat, wir hatten in Jugoslawien eine Republik mit ethnischen Teilrepubliken, wir hatten in Zypern ein Zwei-Staaten-Modell und wir hatten im Libanon ein Proporzsystem. Nirgendwo hat es funktioniert, dass Angehörige verschiedener ethnischer und politischer Gruppen ein gemeinsames System schaffen“. Auf das Konzept des Demokratischen Konföderalismus und seiner Umsetzung in Rojava ging der Experte erst später in seinem Gutachten ein, bei der Aufzählung der verschiedenen gescheiterten Modelle erwähnte er es jedoch nicht. Dass er dem System in Rojava dennoch auch kritisch gegenübersteht, machte er deutlich, indem er immer wieder die Perspektive der von der Barzanî-Partei PDK geführten kurdischen Gruppen in Rojava betonte.

Kenan Ayaz fragte den Sachverständigen auch nach einer weiteren Leerstelle in seinem Gutachten, nämlich dem Charakter des autokratischen türkischen Staates, am Beispiel der türkischen Unterstützung der Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS). Auf diese Frage antwortete der Gutachter etwas ungehalten, es gehe ihm nicht darum, Erdoǧan zu verteidigen, aber er wolle das Verhältnis Erdoǧans zum IS nicht kommentieren, das führe nicht weiter.

Unverständlich blieb, warum der Sachverständige die türkische Unterstützung des IS, der die Kurd:innen und Ezid:innen in Syrien und im Irak angegriffen und zu vernichten versucht hat, nicht als relevant für die Beschreibung des Konflikts ansieht, obwohl das Vorgehen der von der Türkei unterstützten dschihadistischen Banden gegen die Kurd:innen in Rojava bis heute anhält.

Aufgrund des Umfangs der Aufgabenstellung konnte Seufert seine Ausführungen nicht abschließen und soll am 19. Dezember weiter angehört werden.

Der Prozess gegen Kenan Ayaz wird am Montag, dem 11. Dezember, um 9.30 Uhr im Saal 237 fortgesetzt. Das Solikomitee ruft dazu auf, den Prozess zu beobachten und Solidarität zu zeigen.

Foto: Solidaritätskundgebung für Kenan Ayaz zum Prozessauftakt, 3. November 2023