Prozess gegen Kenan Ayaz: „Ein originär politisches Verfahren“

Beim Prozess gegen den kurdischen Aktivisten Kenan Ayaz vor dem OLG Hamburg wird auf allen Ebenen deutlich, dass es sich um ein originär politisches Verfahren handelt. Am Donnerstag wird der Angeklagte eine persönliche Erklärung abgeben.

Vor dem Oberlandesgericht Hamburg ist der Prozess nach §129b StGB gegen Kenan Ayaz (Behördenname: Ayas) fortgesetzt worden. Dem kurdischen Aktivisten wird das Organisieren von Demonstrationen und Versammlungen und das Sammeln von Spendengeldern vorgeworfen. Die Anklage beruht darauf, dass er im Auftrag der PKK gehandelt und in einem Zeitraum von nicht ganz zwei Jahren in Deutschland mit einer Vielzahl von Personen kommuniziert und sich mit diesen getroffen habe.

Kenan Ayaz war bereits in der Türkei für elf Jahre inhaftiert und unvorstellbarer Folter ausgesetzt. Um einer weiteren Verhaftung zu entgehen, floh er nach Zypern und wurde dort als politischer Flüchtling anerkannt. Aufgrund eines von Deutschland beantragten europäischen Haftbefehls wurde er im März 2023 auf Zypern festgenommen und Anfang Juni nach Deutschland ausgeliefert. Am 3. November wurde vor dem Staatsschutzsenat des OLG Hamburg der Prozess gegen ihn eröffnet.

Ordnungsgeld gegen Prozessbeobachterin verhängt

Sowohl auf Zypern als auch in Deutschland hat Kenan Ayaz viele Unterstützer:innen. Auch beim dritten Verhandlungstag am Montag fand im Vorfeld eine Kundgebung statt, auf der eine Vertreterin von „Defend Kurdistan“ seine Freilassung forderte. Das Hamburger Solidaritätsserviceteam bot den teilweise von außerhalb angereisten Prozessbeobachter:innen vor dem Strafjustizgebäude Kaffee, Tee und Kekse an.

Im Gerichtssaal kam es bereits vor Verhandlungsbeginn zu einer etwas absurd anmutenden Intervention des Staatsschutzsenats, als Kenan Ayaz den Raum betrat und von den Zuschauer:innen mit Beifall begrüßt wurde. Gegen eine kurdische Prozessbeobachterin verhängte die Vorsitzende Richterin ein Ordnungsgeld in Höhe von 150 Euro wegen „ungebührlichen Verhaltens“ beim vorangegangenen Prozesstag am 7. November. Die Betroffene will juristisch gegen die Sanktion vorgehen. Auch im weiteren Verlauf reagierte die Richterin unwillig auf das Publikum in der öffentlichen Verhandlung und drohte mit der Anordnung von Ausweiskontrollen.

LKA-Beamter als Zeuge angehört

Als Zeugen der Anklage geladen waren zwei Kriminalbeamte, von denen einer wegen Erkrankung nicht kommen konnte. Befragt wurde der Beamte D. vom LKA Bremen, der vor einigen Jahren Ermittlungen gegen den bereits zweimal in Deutschland wegen PKK-Mitgliedschaft verurteilten Kurden Amed Mustafa Çelik leitete. Hintergrund der Befragung ist der Versuch, Kenan Ayaz in eine „PKK-Hierarchie“ einzuordnen, weil ihm keine weitere Straftat vorgeworfen werden kann. Auch im Fall von Çelik, der im Oktober 2020 vor dem Hamburger Oberlandesgericht zu über zweieinhalb Jahren Freiheitsstrafe verurteilt wurde, konnte sich der LKA-Beamte im Wesentlichen nur an positive Erkenntnisse erinnern. So sei er Ansprechpartner bei Problemen und Konflikten in der kurdischen Community gewesen, habe in Bremen an einer Feier zum Sieg über die islamistische Terrororganisation IS in Kobanê teilgenommen und sich an einer Trauerfeier für den von einer türkischen Drohne in Şengal ermordeten Eziden Zekî Şengalî (Ismail Özden) in Celle beteiligt. Aber darum geht es der Bundesanwaltschaft nicht. Die Anklage will lediglich belegen, dass Kenan Ayaz als „Regionalleiter“ der PKK tätig gewesen sein soll. In den letzten zehn Jahren sind Dutzende Kurd:innen in Deutschland unter diesem Kriterium – Leitung eines „PKK-Gebiets“ oder einer Region – zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt worden.

Beweisanträge der Verteidigung

Dass es sich bei dem Prozess gegen Kenan Ayaz um ein „originär politisches Verfahren“ handelt, führte seine Verteidigerin Antonia von der Behrens in einer Stellungnahme zur beabsichtigten Anordnung des „Selbstleseverfahrens“ durch den Hamburger Staatsschutzsenat aus. Die Rechtsanwältin wies in diesem Zusammenhang auch darauf hin, dass die Übersetzungen von Abhörprotokollen mit Interpretationen des LKA-Dolmetschers versehen sind.

Die Verteidigung beantragte außerdem die Verlesung aktueller Medienartikel als ergänzende Begründung des bereits zum Prozessauftakt gestellten Antrags auf Einstellung des Verfahrens. Der Antrag verfolge das Ziel, die in dem Einstellungsantrag im Rahmen der Verwerflichkeitsprüfung relevanten Feststellungen, „dass es nicht die PKK, sondern die Türkei ist, die das friedliche Zusammenleben der Völker gefährdet, und dass die Türkei kein Staat ist, der die Menschenwürde schützt, zu belegen“, so Antonia von der Behrens: „Aus der Beweisaufnahme wird der Schluss zu ziehen sein, dass die verfahrensgegenständliche allgemein erteilte Verfolgungsermächtigung bzgl. der PKK nunmehr offenkundig willkürlich aufrechterhalten wird. Über die Frage der Willkürlichkeit der Verfolgungsermächtigung hinaus sind die Ergebnisse der beantragten Beweiserhebungen auch insofern relevant, als dass sie belegen, dass das, was Herr Ayas in seiner eigenen Begründung des Einstellungsantrages zum Großteil an Feststellungen gemacht und an Positionen vertreten hat, sich sogar auf der Webseite der Tagesschau wiederfindet.“

Zusammengefasst ergebe sich aus den Medienveröffentlichungen der letzten drei Wochen, „dass innerstaatlich durch einen Justizputsch die letzten Reste des türkischen Rechtsstaats aufgelöst worden sind und es damit keinerlei Schutz der Menschenwürde mehr gibt und dass nach außen Erdoğan die Terrororganisation Hamas unterstützt und Antisemitismus schürt und dass das türkische Regime selber völkerrechtswidrige Taten mit terroristischer Wirkung begeht, indem es die YPG/YPJ in Rojava angreift und zivile Strukturen in Rojava zerstört sowie Zivilisten auch gezielt tötet“.

Justizputsch in der Türkei und Erdoğan-Besuch in Berlin

Beantragt wurde von der Verteidigung die Verlesung der Artikel „‘Probleme ungelöst‘ – EU kritisiert Türkei wegen mangelnder Rechtsstaatlichkeit“ von Erkan Pehlivan in der Frankfurter Rundschau und „Justiz in der Türkei: Angriff auf das Verfassungsgericht“ von Jürgen Gottschlich in der taz sowie eines weiteres Artikels zum Thema von der Webseite der türkischen Zeitung „A Haber“. Mit dem FAZ-Artikel „Erdoğan kommt am 17. November nach Deutschland“ will die Verteidigung die Tatsachen beweisen, dass der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan am 17. November 2023 von Steinmeier und Scholz empfangen werden wird, dass Erdoğan nach den Terrorattacken auf Israel mit mehr als 1200 Toten die islamistische Hamas als „Befreiungsorganisation“ bezeichnet hat, dass er erst am 10. November 2023 das Existenzrecht des Staates Israel in Frage gestellt hat als er auf einer Gedenkveranstaltung zum Todestag des Republikgründers Mustafa Kemal Atatürk in Ankara sagte, Israel versuche „einen Staat aufzubauen, den es erst seit 75 Jahren gibt und dessen Legitimität durch den eigenen Faschismus fraglich geworden ist“, dass die Türkei ein wichtiger Partner für die Bundesregierung ist, dass es enge Wirtschaftsbeziehungen zwischen den beiden Staaten gibt, dass die Türkei für Deutschland und die EU eine wichtige Brückenfunktion hat, dass die Türkei aus Sicht der EU bei der „Steuerung der Zuwanderung nach Europa“ eine zentrale Rolle spielt und dass es bei dem Gespräch zwischen Scholz und Erdoğan auch um die Wiederbelebung des EU-Türkei-Abkommens zur Unterbringung von Flüchtlingen in der Türkei gehen wird, dass die Bundesregierung keine Kritik an Erdoğans Äußerungen und Haltung zur terroristischen Hamas geübt hat, dass aus den Regierungsparteien nur von Personen außerhalb der Regierung vereinzelt Kritik an Erdoğan kam, so von dem FDP-Generalsekretär Bijan Djir-Sarai, der sagte: „Erdoğans permanente Hassreden gegen Israel und seine Solidarität mit der Terrororganisation Hamas sind unerträglich. Das muss Konsequenzen haben und darf von der Bundesregierung nicht ignoriert werden“, und dass diese Konsequenzen bis heute jedoch ausgeblieben sind.

Erdoğans unbeachteter Krieg gegen Rojava

Bei dem fünften zur Verlesung beantragten Artikel handelt es sich um den Beitrag „Türkei und Nordsyrien: Erdoğans unbeachteter Krieg“ von Anna-Sophie Knake auf tagesschau.de, in dem der Arzt und Notfallmediziner Michael Wilk seine Eindrücke aus Rojava schildert (ANF berichtete). In dem Antrag wird ausgeführt, dass nach der Bewertung des Arztes Wilk die Menschen im Laufe des Krieges im Nordosten Syriens eine Selbstverwaltung mit demokratischen Grundsätzen aufgebaut haben, dass dort Gleichberechtigung der Geschlechter, Religionsfreiheit und das Verbot der Todesstrafe eine zentrale Rolle spielen, und dass es ideologisch zwischen diesen Grundsätzen der Selbstverwaltungsregion und dem autokratischen Erdoğan-Regime einen „diametralen Unterschied“ gibt. Wilk bezeichnet es als Doppelmoral, wenn man einerseits Erdoğan hofiert und ihm die Hand reicht, obwohl er Menschen attackiert, terrorisiert und Tausende in die Flucht treibt, und dass dann die EU mit Erdoğan über genau diese geflüchteten Menschen Flüchtlingsabkommen schließt. Eine Folge dieser Angriffe ist das Wiedererstarken islamistischer Milizen.

Relevante Einschätzungen zur Bewertung des Einstellungsantrags

In seiner eigenen Begründung des Einstellungsantrages hatte Kenan Ayaz erklärt: „Täglich regnet es Bomben auf die Kurden, die die Menschlichkeit gegen den Islamischen Staat verteidigen. Ihr Lebensraum wird zerstört. Kurdische Fabriken, Krankenhäuser, Staudämme, Schulen, Gebetshäuser, Strom- und Tankstellen werden bombardiert. Millionen Menschen sind von Wasser und Strom abgeschnitten.“ Und weiter: „Gestern waren die Kurden eine Kraft der Freiheit, als sie die Menschlichkeit gegen den IS-Faschismus verteidigten. Sie waren eine Kraft der Würde. Die Kräfte der Koalition kämpften gemeinsam. Sind die Kurden heute, da der Faschismus Erdoğans einmarschiert ist und völkermörderische Angriffe verübt, zu Terroristen geworden? Vor den Augen der gesamten Menschheit führt Erdoğan einen Krieg des Massakers und des Völkermords. Die Welt schaut schweigend zu.“

Rechtsanwältin Antonia von der Behrens weist darauf hin, dass diese Bewertung der in dem Artikel auf tagesschau.de wiedergegeben Tatsachen und Einschätzungen entspricht. Weiter hatte Kenan Ayaz in seiner Begründung angegeben, dass es gerade auch die Kurdinnen und Kurden sind, die Menschen in Westeuropa eine relative Sicherheit vor dem Islamischen Staat bieten. Auch diese Bewertung werde sich aus der Verlesung der beantragten Artikel ergeben, „sowie der Umstand, dass diese relative Sicherheit sich auch ändern kann, wenn die Kurden in Rojava weiter systematisch mit dem Problem der Bewachung der ehemaligen Kämpfer des Islamischen Staates allein gelassen werden und gleichzeitig der Türkei freie Hand zumindest bei Angriffen auf Rojava aus der Luft bzw. von Grenzposten aus gegeben wird“, so die Verteidigerin.

Persönliche Erklärung von Kenan Ayaz am Donnerstag


Der Prozess gegen Kenan Ayaz wird am Donnerstag, 16. November, um 9.30 Uhr mit der Anhörung des aus PKK-Prozessen bekannten BKA-Beamten Hirschberg fortgesetzt. Im Anschluss wird voraussichtlich der Angeklagte eine persönliche Erklärung abgeben. Die weiteren Verhandlungen sind für den 23.11., 24.11., 27.11., 30.11., 05.12., 07.12.,11.12., 14.12., 19.12., 20.12. und 21.12.2023 terminiert, Beginn ist jeweils um 9.30 Uhr. Für den 5. Dezember hat der Staatsschutzsenat den Wissenschaftler Günter Seufert als Sachverständigen für die Türkei und Zypern geladen. Das Solidaritätskomitee #FreeKenan ruft zur Prozessbeobachtung auf und bittet angesichts der hohen Ausgaben für Dolmetscher:innen u.a. um Spenden an die Rote Hilfe e.V. OG Hamburg, IBAN DE06 2001 0020 0084 610203, Stichwort: Free Kenan

Foto: Solidaritätskundgebung für Kenan Ayaz zum Prozessauftakt, 3. November 2023