Psychoterror gegen die Bevölkerung in Rojava

Die Angriffe auf Menschen und zivile Infrastruktur durch das NATO-Land Türkei sind Kriegsverbrechen, sie dienen dem Zweck der Verbreitung von Angst und Schrecken, der Untergrabung der mentalen Stabilität.

Ein Krieg niedriger Intensität, staatlicher Terror als alltäglicher Zustand in Rojava. Die Angriffe der Türkei zielen, neben der Zerstörung von vor allem ziviler Infrastruktur, auf die mentale Verfasstheit der Bevölkerung. Die Situation in Rojava, Nordostsyrien, hat sich in den letzten Wochen deutlich verschärft. Seit Anfang Oktober greifen Kampfflugzeuge und Drohnen der türkischen Armee verstärkt Menschen, Fahrzeuge und lebenswichtige Infrastruktur in dem autonomen, unabhängig vom Assad-Regime verwalteten Gebiet an.

Laut der Vertretung der Selbstverwaltung (AANES) ergibt sich folgende Bilanz (Stand 19. Oktober 2023): Bei 580 Luftangriffen wurden 44 Menschen getötet, darunter zwei Kinder, 55 wurden verletzt. Elf Kraftwerke wurden beschädigt, zwei Krankenhäuser (laut meinen Recherchen zum Zeitpunkt der Angriffe unbelegt) wurden zerstört, 48 Bildungsstätten wurden angegriffen, ein Fortbildungszentrum einer Einheit für Anti-Drogen-Einsätze wurde bombardiert.

Seit Jahren andauernde Angriffe auf die multiethnische Selbstverwaltung

Als Begründung für die verstärkten Angriffe dient ein Anschlag der PKK am 1. Oktober 2023 in Ankara, bei dem die beiden Attentäter ums Leben kamen. Neben der Tatsache, dass die Menschen Rojavas nicht für den Anschlag verantwortlich sind, ist diese Begründung auch vor dem Hintergrund seit Jahren bestehender Angriffe und Invasionen auf Nordostsyrien zynisch. Seit der Selbstorganisierung der multiethnischen Bevölkerung im Norden Syriens – hier leben neben kurdischen Menschen unter anderem arabische, aramäische und ezidische Bewohner:innen – wird Rojava von der Türkei zunehmend attackiert.

Die Menschen Rojavas distanzieren sich nicht nur vom Assad-Regime und haben die Gleichberechtigung der Geschlechter eingeführt, sondern haben zudem, im Bündnis mit der Anti-IS-Koalition, die islamistische Terrororganisation „Islamischer Staat“ militärisch zerschlagen. Das Erdogan-Regime befahl mehrfach den Einmarsch in Nordsyrien, in Efrîn 2018, ebenso wie die Invasion 2019 in Serêkaniyê und Girê Spî. Die Überfälle hatten nicht nur zahlreiche Tote und Verletzte zur Folge, sondern trieben zudem Hunderttausende in die Flucht. Die Attacken des NATO-Landes Türkei sind also mitnichten eine Reaktion auf ein aktuelles Ereignis, sondern finden schon seit Jahren statt.

Verbreitung von Angst und Schrecken

Die aktuellen Angriffe durch das NATO-Mitglied Türkei haben massive Auswirkungen für die Bevölkerung, vor allem im Bereich der Energie- und der Wasserversorgung. War die Infrastruktur durch frühere türkische Angriffe auf Pumpstationen und die Niedrigregulierung des Euphrat bereits in einem schlechten Zustand, sind nun die Verhältnisse in Bereichen katastrophal.

Beim Besuch der Bürgermeisterinnen von Dêrik und Kobanê wurden mir eindrücklich die Not und die Folgen für abertausende Menschen der Regionen geschildert. Zerstörte Pumpstationen und Leitungssysteme lassen die Versorgung durch Tankwagen notwendig werden. Noch funktionierende Pumpen sind durch zerstörte Kraftwerke nur noch mit Hilfe von Dieselgeneratoren zu betreiben. Zum Teil lassen sich die Schäden nicht beheben, da sie im direkten Feuerbereich türkischer Geschütze liegen.

Die Angriffe durch Kampfflugzeuge und Drohnen, aber auch durch direkten Beschuss über die Grenze hinweg, sind eine permanente unberechenbare Bedrohung. Beide Bürgermeisterinnen beklagen übereinstimmend, neben der Zerstörung ziviler Infrastruktur, vor allem den „steigenden Verlust von Sicherheit“. Sie beschreiben die „Verbreitung von Angst und Schrecken“ als wesentliche negative Auswirkung gegenüber der Bevölkerung.

Blick aus dem Rathaus von Kobanê gen Norden auf die syrisch-türkische Grenze © Michael Wilk

Wie real diese Aussage ist, zeigt sich beim Gespräch mit Rawsan Abdi, der Bürgermeisterin von Kobanê, als mir ein Durchschuss in der Wand ihres Büros auffällt. Auf meine Nachfrage hin werden mir zahlreiche Durchschüsse in den Wänden des Rathauses gezeigt, sowie Projektile schwerer Maschinenwaffen. Das Rathaus liegt wenige Hundert Meter entfernt in direkter Sichtweite der türkischen Grenzposten. Eine hohe Mauer und Stacheldrahtverhaue trennt nicht nur Türkei und Syrien, sondern die beiden kurdischen Gebiete hüben und drüben.

Die Soldaten schießen des Öfteren und völlig grundlos auf das Gebäude der Kommune, die Geschosse durchschlagen die Wände und fliegen den Beschäftigten buchstäblich um die Ohren. Ich kann problemlos durch die Einschusslöcher ins Freie sehen.

Dass hier bis jetzt niemand verletzt wurde, ist reiner Zufall. Nicht selten werden Menschen, die auf den grenznahen Feldern arbeiten, durch Gewehr- oder Granatfeuer verletzt oder getötet. Die unberechenbare Grausamkeit türkischer Grenztruppen ist nicht neu. Ich erlebte dies bereits 2015, als mir im Krankenhaus von Serêkaniyê ein auf einem grenznahen Feld arbeitender Jugendlicher mit Beindurchschuss zur Versorgung gebracht wurde.

Strategie einer nachhaltigen Zermürbung

Die forcierten systematischen Angriffe auf Menschen und Material seit Anfang Oktober haben jedoch weitaus weniger mit individueller Grausamkeit zu tun, als vielmehr mit der Strategie einer nachhaltigen Zermürbung. Ziel der Angriffe ist die Destabilisierung auf materieller, aber vor allem auch auf mentaler Ebene. Hochfliegende Drohnen sind unhör- und unsichtbar, nichts rettet vor der plötzlich einschlagenden Rakete, sie tötet, verletzt, zerstört. Betroffen sind explizit nicht nur militärische Ziele der Selbstverteidigungseinheiten YPG/YPJ, sondern auch zivile Menschen und Einrichtungen.

Konzept des Psychoterrors gegen die Bevölkerung

Türkische Piloten und Soldaten bombardieren und beschießen Männer, Frauen, Kinder, es kann prinzipiell alle treffen, immer und überall. Dies verursacht tiefe Unsicherheit und ein Gefühl andauernder Bedrohung. Die so erzeugte Angst ist entscheidender Faktor der Kriegsführung.

Psychische Gesundheit ist laut WHO „ein integraler Bestandteil von Gesundheit und Wohlbefinden und untermauert unsere individuellen und kollektiven Fähigkeiten, Entscheidungen zu treffen, Beziehungen aufzubauen und die Welt, in der wir leben, zu gestalten. Psychische Gesundheit ist ein grundlegendes Menschenrecht. Und ist entscheidend für die persönliche, gemeinschaftliche und sozioökonomische Entwicklung.“ Genau hier setzt die Strategie des Erdogan-Regimes an. Die Angriffe auf Menschen und zivile Infrastruktur durch das NATO-Land Türkei sind Kriegsverbrechen, sie dienen dem Zweck der Verbreitung von Angst und Schrecken, der Untergrabung der mentalen Stabilität. Die unberechenbaren Attacken zielen auf die psychische Verfasstheit und folgen einem erkennbaren Konzept des Psychoterrors gegenüber der gesamten Bevölkerung Nordostsyriens.

Muster eines Krieges niedriger Intensität

Die Angriffe der Türkei folgen dem Muster eines Krieges niedriger Intensität, sie konzentrieren sich folglich auf die Beschießung einzelner, auch kleinerer Ziele, die Ermordung der Insassen einzelner PKWs, der Zerstörung einzelner wichtiger Anlagenbereiche. Die Bombardierung einer Polizeieinheit in Nähe der Ölfelder bei Rimelan, bei der 29 Menschen starben, stellte den Angriff mit den meisten Opfern dar. Obwohl militärtechnisch weit überlegen, vermeidet die türkische Armee zurzeit massive große Angriffe, die Bombardierung von ganzen Wohnvierteln, oder eine erneute Überschreitung der Grenze mit Panzereinheiten, um keine größere negative Aufmerksamkeit zu wecken.

Dies zeigt Erfolg, denn obwohl sich die Angriffe massiv auf Rojava auswirken, entziehen sie sich der medialen Aufmerksamkeit, die auf den Russland-Angriff, den Terror der Hamas und die Bombardierung Gazas fokussiert ist.

Nach Beschuss verbrannte Anlage in Raffinerie von Rimelan © Michael Wilk

Die perfide Strategie, sich im Ranking der Kriegsverbrechen und des Terrors nicht im quantitativen Spitzenbereich zu bewegen, geht auf. Da auch die westlichen Regierungen, wie meist, zu den Verbrechen Erdogans schweigen, können Mord und Zerstörung ungestört weitergehen.

Es sind die gleichen Regierungen, die vor nicht allzu langer Zeit das Ende des IS bejubelten und nun jene vergessen, die dafür die Köpfe hingehalten haben. Schwerer als der Respekt vor den Opfern kurdischer Kämpfer:innen wiegen Abkommen über Geflohene und die NATO-Partnerschaft. Die Rücksichtnahme auf den Potentaten und seine Kriegsverbrechen beweist eiskalten politischen Zweckpragmatismus, sowie unerträgliche Doppelmoral, da vergleichbare Unmenschlichkeit an anderen Fronten zu Recht beklagt und angeprangert wird. Anstatt alles dafür zu tun, die Angriffe zu verhindern und vielmehr endlich massive notwendige Aufbauunterstützung für Nordostsyrien zu leisten, wird die von Seiten der türkischen Regierung beabsichtigte Destabilisierung der Region in Kauf genommen. Ein Fehler, der nicht zuletzt dem im Untergrund lauernden IS weiter mörderische Spielräume eröffnen wird.

Zunehmend militärische Prämissen

Schon jetzt zeitigen die Angriffe, neben den direkten Auswirkungen der Zerstörung, weitere negative Konsequenzen. Die basisdemokratischen Ansätze, die Gleichberechtigung der Geschlechter, die emanzipatorischen Projekte generell, leiden an der sich verschärfenden Kriegssituation. War die Auseinandersetzung mit tradierten Dominanzstrukturen, mit tief geankerten archaisch-patriarchalen Mustern, immer schwierig und alltagsbestimmend, wird sie durch wachsende Unsicherheit und Angst negativ befeuert. Auch die gesellschaftlichen Entscheidungsabläufe sind von zunehmendem Krieg- und Terror stark beeinflusst, sie drohen zunehmend militärischen Prämissen zu folgen, anders als unter sicheren, friedlichen gesellschaftlichen Bedingungen.

Mitte: zerstörter Flüssigkeitstank, links runder Gastank © Michael Wilk

Wie mir Vertreter:innen der Selbstverwaltung und von NGOs berichten, müssen wichtige Projekte des Gesundheitssektors und anderer gesellschaftlicher Bereiche verschoben werden, weil Reparaturmaßnahmen massiv Ressourcen binden. Spürbar sei ebenso ein ökonomisch relevanter Rückgang privater Investitionen. Feststellbar sei zudem ein erkennbarer Anstieg der Migration, die in meinen Augen wichtigste Folge der türkischen Angriffe und des damit verbundenen Psychoterrors.

Instandgesetzter Kühlturm der Raffinerie in Rimelan © Michael Wilk

Während in Europa zunehmend Geflohene negativ bewertet, ausgegrenzt und auch dem Tod überantwortet werden, schafft das Erdogan-Regime ungestraft Ursachen für Flucht und Vertreibung. Die perfide Methode, populistisch Geflohene zum Problem zu erklären, sich jedoch um die Fluchtursachen einen Dreck zu scheren, wird einmal mehr unter Beweis gestellt. Auch von der deutschen Bundesregierung.

Die Menschen sind nicht nur Opfer

Rawsan Abdi, Ko-Bürgermeisterin von Kobanê, sagt: „Kobanê ist eine schöne Stadt, aber jetzt ist die Situation schlimm, wir brauchen Hilfe.“ Das sollten wir ernst nehmen. Es gilt zu informieren und den Druck zu erhöhen. Die westliche Toleranz gegenüber Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen muss enden. Die Angriffe müssen gestoppt werden. Solidaritätsarbeit auf der Ebene von Initiativen, von Städtepartnerschaften, von NGOs, ist notwendiger denn je.

Entscheidend wäre eine massive Unterstützung zum Wiederaufbau der Zivilgesellschaft. Um diese umsetzen zu können, ist ein Paradigmenwechsel der Politik notwendig. Erdogans Verbrechen müssen endlich als solche benannt und geahndet werden.

Zum Schluss: Anders als in manchen Berichten dargestellt, erfahre ich Rojava in diesen Tagen nicht als funktionsunfähig, mit nahezu zerstörter Infrastruktur, oder am Boden liegend. Sehr vieles funktioniert, ist unzerstört geblieben oder wurde rapide repariert. Die Bedingungen sind sehr schwierig, aber die Menschen der Region sind trotz alledem nicht nur Opfer, sondern auch aktiv Handelnde. Wir sollten vorsichtig sein mit Darstellungen, die das Zerstörungswerk Erdogans größer machen als es ist. Denn damit würden wir seiner Strategie, Angst und Schrecken zu verbreiten, in die Hände spielen.

Unser Gastautor Michael Wilk, Wiesbadener Allgemein- und Notfallmediziner sowie Psychotherapeut, reist seit 2014 immer wieder nach Rojava, und zwar gerade dann, wenn wie bei der türkischen Invasion 2019 Hilfsorganisationen und Journalist:innen die Flucht ergriffen. 2022 erschien das von ihm herausgegebene Buch „Erfahrung Rojava“ im Verlag Edition AV.