„Deckname Kenan“: PKK-Prozess in Hamburg eröffnet

In Hamburg ist der Prozess gegen den kurdischen Aktivisten Kenan Ayaz eröffnet worden. Das öffentliche Interesse an dem Verfahren ist groß, aus Zypern sind Prozessbeobachter angereist. Die Verteidigung legte den politischen Hintergrund dar.

Vor dem Oberlandesgericht Hamburg hat unter großem öffentlichen Interesse der Prozess gegen Kenan Ayaz (offizielle Schreibweise: Ayas) begonnen. Dem kurdischen Aktivisten wird eine mitgliedschaftliche Betätigung in der Arbeiterpartei Kurdistan (PKK) nach §§129a/b Strafgesetzbuch (StGB) vorgeworfen. Ayaz war im März 2023 am Flughafen Larnaka auf Zypern aufgrund eines vom Bundesgerichtshofs beantragten europäischen Haftbefehls festgenommen und Anfang Juni nach Deutschland ausgeliefert worden. Seitdem ist er unter verschärften Haftbedingungen im Hamburger Untersuchungsgefängnis Holstenglacis inhaftiert.

Solidarität mit Kenan Ayaz aus Zypern

Zum Prozessauftakt forderte das Solidaritätskomitee „Free Kenan“ auf einer Kundgebung vor dem Hamburger OLG die sofortige Freilassung von Kenan Ayaz. Der aus Zypern angereiste Parlamentsabgeordnete Giorgos Koukoumas (AKEL) wies in einer Rede auf den politischen Hintergrund des Verfahrens hin und sagte, dass Kenan Ayaz keinerlei Gewalttaten vorgeworfen werden. Der AKEL-Politiker berichtete von der großen Solidarität mit Ayaz und den Protesten gegen seine Auslieferung auf Zypern. Er forderte die Streichung der PKK von der EU-Liste terroristischer Organisationen und sprach dem Kampf des kurdischen Volkes um Würde seine volle Unterstützung aus.


Großes öffentliches Interesse

Die Verhandlung wurde von zahlreichen Medien-Vertreter:innen und Dutzenden weiteren Menschen beobachtet, darunter neben dem zyprischen Abgeordneten Koukoumas auch die Ko-Vorsitzende der Hamburger Linksfraktion, Cansu Özdemir, sowie die im deutschen Exil lebenden ehemaligen HDP-Abgeordneten Selma Irmak und Nihat Akdoğan. Längst nicht alle Interessierten wurden wegen Platzmangel in den Zuschauerraum gelassen, aufgrund der Fehlplanung des Gerichts bildeten sich Warteschlangen vor dem Gerichtssaal.

Kenan Ayaz mit stehendem Applaus begrüßt

Der Angeklagte zeigte beim Betreten des Verhandlungsraums das Victory-Zeichen und wurde von den Prozessbeobachter:innen mit stehendem Applaus begrüßt. Bei der Personalienfeststellung gab der in Midyad in der Provinz Mêrdîn (tr. Mardin) geborene Angeklagte an, dass die Schreibweise seines Nachnamens als „Ayas“ und sein Geburtsdatum (1. April 1974) bei den türkischen Behörden falsch registriert wurden. Seine Mutter habe ihm mitgeteilt, er sei erst 1975 geboren, erklärte Ayaz und nutzte die Gelegenheit, die zahlreich erschienenen Zuschauer:innen zu begrüßen.

Beiordnung von zweitem Pflichtverteidiger abgelehnt

Die Verteidigung von Kenan Ayaz forderte zu Prozessbeginn die Beiordnung eines zweiten Pflichtverteidigers. Rechtsanwältin Antonia von der Behrens machte bei ihrer Gegenvorstellung geltend, dass der Strafschutzsenat mit drei Richterinnen besetzt ist und die Anklage durch zwei Personen vertreten wird. Aufgrund des Umfangs der Verfahrensakte (44 Bände TKÜ und 56 Bände Strukturakte) sei eine effektive Verteidigung nicht von einer einzigen Rechtsanwältin zu bewerkstelligen. Die Vorsitzende Richterin Wende-Spors lehnte die Beiordnung des zweiten Verteidigers Stephan Kuhn ab. Zum Verteidigerteam gehört neben von der Behrens und Kuhn auch der zyprische Rechtsanwalt Efstathios C. Efstathiou.

Nicht wegen Gewalttaten angeklagt

In der Anklageschrift wird Kenan Ayaz keine Begehung einer Gewalttat unterstellt. Die Anklage beruht allein darauf, dass er im Auftrag der PKK zwischen 2018 und 2020 in Norddeutschland und Nordrhein-Westfalen mit einer Vielzahl von Personen kommuniziert und sich mit diesen getroffen hätte, von denen einige von deutschen Strafverfolgungsbehörden ebenfalls als Angehörige der PKK eingestuft werden. Außerdem soll er legale Demonstrationen und Kundgebungen organisiert und sich an Spendensammlungen beteiligt haben.

Politisch motiviertes Strafverfahren

Nach der Verlesung der Anklageschrift gab die Verteidigung eine ausführliche Eröffnungserklärung ab, in der der politische Charakter des Verfahrens verdeutlicht wurde. Der Angeklagte wird sich voraussichtlich am 13. November zu den politischen Vorwürfen gegen ihn äußern. Für den nächsten Verhandlungstag am 7. November sind zwei Zeugen geladen. Die weiteren Verhandlungen sind für den 16.11., 23.11., 24.11., 27.11., 30.11., 05.12., 07.12.,11.12., 14.12., 19.12., 20.12. und 21.12.2023 terminiert, Beginn ist jeweils um 9.30 Uhr.

Eröffnungserklärung der Verteidigung für Kenan Ayaz

In der Eröffnungserklärung führten die Verteidiger:innen Antonia von der Behrens, Stephan Kuhn und Efstathios C. Efstathiou folgenden Sachverhalt aus:

Der Vertreter des Generalbundesanwalts hat in der Anklage ausgeführt, dass aus Sicht der Bundesanwaltschaft die PKK eine ausländische terroristische Vereinigung ist und dass Herr Ayas von September 2018 bis Juni 2019 verantwortlicher Kader dieser Vereinigung für die PKK-Region und das PKK-Gebiet Hamburg gewesen sei und von Juli 2019 bis Juni 2020 eine entsprechende Verantwortung für die Region Nordrhein und das Gebiet Köln gehabt haben soll, was ein strafbares Verhalten nach § 129b Abs. 1 StGB darstelle.

Es wird Herrn Ayas also einer der schwersten Vorwürfe überhaupt, nämlich der des Terrorismus gemacht. Ihm wird ein Verbrechen vorgeworfen, bedroht mit einer Mindeststrafe von einem Jahr.

Zwischen der ersten Verurteilung eines Kurden im Jahr 2013 durch das Oberlandesgericht Hamburg nach § 129b StGB und heute haben sich die Verhältnisse in der Türkei, die kurdische Bewegung und der türkisch-kurdische Konflikt grundlegend verändert. Diese substantiellen Veränderungen haben jedoch nicht etwa zu einer Mäßigung des Vorgehens der Bundesanwaltschaft und des Bundeskriminalamts gegen vermeintliche Mitglieder der PKK geführt. Nein, im Gegenteil wird die Strafverfolgung einerseits systematisch auf Personen ausgeweitet, die noch nicht einmal von den Strafverfolgungsbehörden als Kader bezeichnet werden, und andererseits werden immer höhere Strafen gefordert.

Dieses Vorgehen ist unter dem Gesichtspunkt des das deutsche Strafrecht bestimmenden Schuldprinzips und auch rechtspolitisch nicht verständlich. Hat sich doch in den letzten zehn Jahren klar gezeigt, dass auf der einen Seite die Türkei unter Erdogan ein autokratisches Regime mit diktatorischen Zügen ist, in dem Menschenleben nichts wert sind und das Kurd:innen grausam auch mit völkerrechtswidrigen Mitteln verfolgt, und dass auf der anderen Seite die kurdisch-patriotische Bewegung eine Verbündete sowohl in Bezug auf eine Demokratisierung der Türkei als auch im Kampf gegen den Islamischen Staat und islamischen Fundamentalismus ist.

Die Türkei hat offen den Islamischen Staat gegen die Kurd:innen in Syrien und im Irak unterstützt, die türkischen Sicherheitsbehörden haben zugesehen, wie der IS in der Türkei Bomben gegen Friedensdemonstranten und kurdische Wahlkampfveranstaltungen gelegt hat, Erdogan hat die Friedensverhandlungen mit der PKK im Interesse seines Machterhalts scheitern und alle auf kurdischer Seite an den Verhandlungen beteiligten Personen inhaftieren lassen, er hat spätestens seit dem gescheiterten Putschversuch ein autokratisches Regime mit diktatorischen Zügen installiert, das jegliche Opposition gnadenlos verfolgt und gewählte kurdische Bürgermeister und Menschen der kurdischen Zivilgesellschaft in großer Zahl inhaftiert, er hat die Verfassung ändern und sich als fast allmächtiger Staatspräsident wählen lassen und führt völkerrechtswidrige Angriffskriege gegen die Kurd:innen in Syrien und im Irak, setzt dabei Giftgas ein, tötet mit Bomben und Drohnen in diesen Ländern unzählige kurdische Zivilisten und zerstört zivile Infrastruktur, bedroht Griechenland mit einem Einmarsch und unterstützt seit neustem sogar offen die Terrororganisation Hamas.

Zur selben Zeit haben die PKK und die kurdische Bewegung große Anstrengungen unternommen, um zu einem Friedensschluss mit der Türkei zu kommen, und hierfür große Zugeständnisse gemacht, waren unter anderem zu einem Niederlegen der Waffen bereit. Die YPG/YPJ haben unterstützt von Kämpfern der HPG, also der PKK, den IS in Syrien und im Irak bekämpft und viele Ezid:innen im Sincar-Gebirge vor den völkermordenden dschihadistischen Banden gerettet. Die USA kämpfen bis heute an der Seite der YPG/YPJ in Syrien gegen den IS und haben vor kurzem sogar eine türkische Drohne abgeschossen. Zugleich hat die kurdische Bewegung in Rojava in einer Kriegssituation ein Gemeinwesen nach den Grundsätzen des demokratischen Konföderalismus aufgebaut, in dem Diskriminierung aufgrund von Geschlecht, Religion, Ethnie oder Sprache verboten sind. Im Iran waren es die kurdischen Frauen, die den demokratischen Aufstand anführten und mit der Losung „Jin, Jiyad, Azadî“ weltweit bekannt wurden und in der Türkei war es die HDP, die legale kurdische Partei, in der neben Kurd:innen auch Armenier:innen, LGBTQ-Menschen und türkische Linke vertreten sind, auf die große Hoffnungen für die Demokratisierung der Türkei auch im Ausland gesetzt wurden und werden. Und ja, die PKK führt noch einen bewaffneten Kampf mit der Türkei, aber sie greift nicht wie die Türkei wahllos Zivilisten an, sondern verteidigt sich gegen die völkerrechtswidrigen Angriffe der Türkei und die Versuche der Vernichtung der kurdischen Autonomie in Rojava. Sie verteidigt sich mit Anschlägen auf militärische Ziele oder das Militär unterstützende Strukturen und gerät in Gefechte mit dem türkischen Militär. Die HPG veröffentlichen Presseerklärungen dazu, welche Kampfhandlungen und Anschläge stattgefunden haben, und gibt hierzu Opferzahlen an. Die Guerilla versteckt sich also nicht, sie operiert offen wie eine Armee, so dass die Anklageschrift des Generalbundesanwalts sich ganz maßgeblich auf die Veröffentlichungen der kurdischen Bewegung stützen kann.

In Deutschland ist bzw. könnte die kurdische Bewegung eine Verbündete im Kampf gegen den Islamischen Staat und andere fundamentalistische Terrororganisationen und Strömungen sein. Eine in der Türkei und im Nahen Osten verwurzelte und in Europa stark vertretene Bewegung, für die die Gleichheit aller Religionen und aller Geschlechter ein zentraler Inhalt ist, in den heutigen Zeiten weiterhin als terroristisch zu verfolgen, kann offenkundig nicht im Interesse der Bundesrepublik Deutschlands oder der EU sein.

Dafür, dass Kurd:innen in Deutschland weiterhin als vermeintliche Mitglieder der PKK als Terrorist:innen intensiv verfolgt und erhebliche Ressourcen hierfür aufgewendet werden, kann die Erklärung nur lauten, dass diese Strafverfahren zwar nicht im innen- aber im außenpolitischen Interesse Deutschlands liegen. Kurz, dass die andauernde und sogar zunehmende strafrechtliche Verfolgung von Kurden nach § 129b StGB dem Druck geschuldet ist, den die Türkei auf Deutschland und andere EU-Mitgliedstaaten ausübt, damit vermeintliche Anhänger:innen der PKK in diesen rückhaltlos verfolgt werden.

Dass ein Strafverfahren auf Wunsch und im Interesse eines ausländischen autokratischen Staates geführt werden kann, hängt mit der Besonderheit des Tatbestandes von § 129b StGB zusammen, der die Mitgliedschaft in einer ausländischen kriminellen oder terroristischen Vereinigung unter Strafe stellt. Strafverfahren nach § 129b StGB gegen vermeintliche Mitglieder einer ausländischen kriminellen oder terroristischen Vereinigung können nur geführt werden, wenn eine sogenannte Verfolgungsermächtigung erteilt worden ist. Die Erteilung der Verfolgungsermächtigung ist eine rein administrative Entscheidung, die vom Bundesministerium der Justiz nach Konsultationen unter anderem mit dem Auswärtigen Amt und dem Bundeskanzleramt getroffen wird. In die Entscheidung des Bundesministeriums der Justiz nach seinem „Ermessen“ fließen nach Auskunft der Bundesregierung auch expliziert außenpolitische Interessen ein. Hätte die Türkei keine so günstige geostrategische Lage und wäre sie nicht Mitglied der NATO, würde mit Sicherheit die Verfolgungsermächtigung für die PKK nicht erteilt werden, so wie sie auch für andere ausländische militante Vereinigungen nicht erteilt wird, da an deren strafrechtlichen Verfolgung kein Interesse besteht.

Somit ist das hiesige Verfahren ein originär politisches, da es auf einer politischen Entscheidung, der Verfolgungsermächtigung, beruht. Ohne diese Entscheidung säße Herr Ayas heute nicht auf der Anklagebank. Nicht nur die Entscheidung, Herrn Ayas strafrechtlich zu verfolgen, ist eine politische, auch der Vorwurf, wegen dem er verfolgt wird, ist sich für bestimmte politische Ziele in an sich legaler Weise politisch betätigt zu haben. Mit einem gewöhnlichen Strafverfahren hat dies nichts mehr zu tun und das macht es sehr schwierig für Herrn Ayas, sich gegen die Vorwürfe zu verteidigen.

Herr Ayas ist ein politischer Mensch, ein politischer Kurde. Er hat massive politische Verfolgung in der Türkei erlitten. Er war bereits zwei Mal in der Türkei zu Unrecht inhaftiert. Schon mit 18 Jahren wurde er im Jahr 1993 verhaftet, schwer gefoltert und allein aufgrund der falschen und erfolterten Aussage – er sei für zwei Monate Mitglied eines PKK-Komitees in Alanya gewesen – zu 15 Jahren Haft verurteilt, von denen er unter schlimmsten Bedingungen elf Jahre verbüßen musste. Nach seiner Entlassung verließ er die Türkei nicht, sondern beteiligte sich an legaler kurdischer Bildungsarbeit und am Wahlkampf der legalen kurdischen Partei, wofür er erneut für sechs Monate inhaftiert und anschließend im Jahr 2007 sogar von der türkischen Justiz freigesprochen, aber nicht entschädigt worden ist. Im Jahr 2010 wurde gegen Herrn Ayas in der Türkei eine Anklage wegen vermeintlicher Mitgliedschaft in der KCK aufgrund seiner in Diyarbakir geleisteten Bildungsarbeit erhoben. Er ist einer von 151 Angeklagten in dem großen KCK-Hauptverfahren, einem Pilotverfahren, mit dem die kurdische Zivilgesellschaft in ihrer ganzen Breite kriminalisiert und marginalisiert werden sollte. Zwar konnte Herr Ayas nach Zypern fliehen und wurde dort als politischer Flüchtling anerkannt, aber das Türkische Regime sucht ihn weiterhin und will ihn in auf Grundlage der KCK-Anklage verurteilen.

Zu seinem Leben wird sich Herr Ayas noch selber ausführlich in einer Erklärung zu seinen persönlichen Verhältnissen äußern. Die Herrn Ayas vorgeworfenen Taten sind solche aus der Sphäre des Politischen.

Die hiesige Anklage wirft Herrn Ayas ausschließlich für sich genommen in Deutschland nicht strafbares, soziales und politisches, grundrechtlich geschütztes Verhalten vor. Dieses an sich legale Verhalten wird in der Anklage zur „Betätigungshandlung“ im Sinne des § 129 b StGB, weil er die einzelnen Handlungen im Interesse der PKK vorgenommen haben soll. Ihm wird im Einzelnen vorgeworfen, dass er an der Organisation von Demonstrationen beteiligt gewesen sein soll, dass er mit Personen, die auch PKK-Mitglieder sein sollen, kommuniziert und sich mit ihnen getroffen haben, er soll Menschen zu einem Besuch ins Krankenhaus geschickt und sich für Spendensammlungen interessiert haben. Keine einzige Gewalttat, keine in Deutschland als solche anderweitig strafbare Handlung wird ihm vorgeworfen. Die Beteiligung an der Organisation einer legalen und angemeldeten Versammlung, zum Beispiel indem man sich um eine Musikanlage kümmert oder einen Raum besorgt, wird nach dem völlig entgrenzten Verständnis des deutschen Vereinigungsstrafrechts allein dadurch zu einer terroristischen Betätigung, dass die Person diese Aktivitäten vermeintlich im Interesse der PKK und eingebunden in die Hierarchie der PKK entfaltet haben soll. An der Handlung an sich ist nicht erkennbar, ob sie eine Betätigungshandlung sein könnte oder nicht. Wann ist die Bitte, eine Person im Krankenhaus zu besuchen, eine menschliche Geste und wann ist sie eine terroristische Tat? Wann ist die Mit-Organisation von legalen Versammlungen Ausübung eines Grundrechts und wann ist es eine terroristische Betätigungshandlung? Diese Art der Umdeutung legalen Verhaltens wird mit Blick auf den Bestimmtheitsgrundsatz, der nicht nur nach dem deutschen Grundgesetz, sondern auch nach der EMRK gilt, jedenfalls Fragen auf.

Das hiesige Verfahren ist nicht nur aufgrund der Verfolgungsermächtigung ein politisches, sondern es muss sich auch ganz konkret für Herrn Ayas noch aus einem anderen Grund als ein solches darstellen. Und zwar wegen des Zeitpunkts, zu dem der Europäische Haftbefehl gegen ihn beantragt worden ist. Dieser Zeitpunkt muss für einen objektiven Beobachter den Anschein erwecken, die strafrechtliche Verfolgung von Herrn Ayas hätte ganz konkret im Interesse des türkischen Regimes gelegen.

Wie allgemeinkundig ist, nutzte das türkische Regime den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine und das Bestreben von Finnland und Schweden, der NATO beizutreten, dazu aus, Schweden, Finnland und die gesamten NATO-Staaten zu einem härteren Vorgehen gegen die die PKK und weiteren, von der Türkei als terroristisch eingestuften Vereinigungen, faktisch zu nötigen. Monatelang dominierte das Hinhalten und die Forderungen Erdogans die deutsche Berichterstattung. Konkret forderte Erdogan auf dem NATO-Gipfel am 29./30. Juni 2022 in Madrid, bei dem erstmals offiziell über den Beitritt von Finnland und Schweden verhandelt wurde, insbesondere von Schweden seine Gesetze zu ändern und zukünftig auch ansonsten legal und friedliche Handlungen, soweit sie der PKK zugutekommen können, in Schweden unter Strafe zu stellen. Im Gegensatz zu Deutschland war es nämlich in Schweden und ist es bis heute in Zypern, der Schweiz und Belgien nicht strafbar, legale Handlungen vorzunehmen, die (auch) im Interesse der PKK liegen.

Nach erheblichem Druck und Getöse von Seiten Erdogans ist Schweden dieser offenkundigen Einmischung in seine innerstaatlichen Angelegenheiten im Juni 2023 mit einer sehr weitgehenden Gesetzesänderung nachgekommen. Ob nunmehr alle kurdischen Menschen, deren politische Aktivitäten bisher völlig legal waren, nun auch als Terroristen verfolgt werden, wird abzuwarten bleiben. Es steht damit zumindest fest, dass ein EU-Staat sich seine Sicherheitspolitik und den Inhalt seines Strafgesetzes von einem autokratischen Regime mit diktatorischen Zügen diktieren ließ. In diesem Sinne ist auch Deutschland bereit, der Türkei entgegen zu kommen, indem es die politische Betätigung von Kurd:innen strafrechtlich verfolgt.

Vom 5. bis 7. Juli 2022 und damit nur wenige Tage nach dem NATO-Gipfel traf sich der deutsche Generalbundesanwalt Dr. Frank nicht nur mit dem türkischen Generalanwalt und dem Präsidenten des Kassationsgerichtshofs, sondern völlig Ebenen-inadäquat auch mit dem türkischen Staatspräsidenten Erdogan. Warum dieses Treffen so kurz nach dem NATO-Gipfel und während der andauernden massiven medialen und außenpolitischen Bemühungen des türkischen Regimes, ein härteres Vorgehen gegen die PKK zu erreichen, stattfand, ist nicht bekannt. Auch in der Antwort auf eine Kleine parlamentarische Anfrage im Deutschen Bundestag hat die Bundesregierung keinen Grund für dieses Treffen mitgeteilt und auch nicht, was konkret Gegenstand der Unterredung war.

Diese Umstände müssen bei Herrn Ayas den Eindruck erwecken, dass die Entscheidung, einen Europäischen Haftbefehl gegen ihn zu beantragen, außenpolitisch motiviert war. Herr Ayas ist, wie dargestellt, seit 2010 einer der 151 Angeklagten in dem großen KCK-Hauptverfahren; auch wenn die Vorwürfe haltlos sind und allein an seine kurdische Bildungsarbeit anknüpfen, zeigt sich darin dennoch das Interesse des türkischen Regimes an seiner Person.

Die Beantragung und der Erlass eines europäischen Haftbefehls mit dem Vorwurf der mitgliedschaftlichen Betätigung in der PKK in Deutschland, ist für sich genommen nichts Ungewöhnliches. Insbesondere in den letzten Jahren greift die Bundesanwaltschaft immer häufiger zu diesem Instrument, mit dem sie das deutsche Konzept der strafrechtlichen Verfolgung von politisch aktiven Kurdinnen und Kurden auf alle EU-Mitgliedstaaten ausdehnt.

Was im Fall von Kenan Ayas hingegen auffällig ist, dass die Ermittlungen gerade nicht die Beantragung eines Europäischen Haftbefehls nahelegten und dass dieser erst zwei Jahre nach dem faktischen Abschluss der Ermittlungen und auf dem Höhepunkt der Diskussionen um den NATO-Beitritt der genannten Staaten und kurz vor dem Besuch des Generalbundesanwalts bei Erdogan beantragt worden ist.

Im Einzelnen:

Der erste und letzte Sachstandsbericht des Bundeskriminalamts in dem Ermittlungsverfahren gegen Kenan Ayas ist datiert auf den 25. Mai 2020. Verdeckte Ermittlungsmaßnahmen waren spätestens Ende April 2020 ausgelaufen. Vermeintliche Erkenntnisse zu Kenan Ayas fielen nicht mehr an und wurden, soweit aus der Akte ersichtlich, bis März 2021 auch nicht versucht zu generieren. Laut einem Vermerk des BKA soll Kenan Ayas am 21. November 2019 in Köln einer verdeckten Personalienkontrolle unterzogen worden sein und sich dabei mit einem zyprischen Reiseausweis für Flüchtlinge, gültig bis 28. September 2020, ausgewiesen haben. Seit dieser Zeit ist also dem BKA bekannt, dass Kenan Ayas Verbindungen nach Zypern hatte und spätestens zur Verlängerung seines Reiseausweises im September 2020 dorthin hätte zurückkehren müssen. Der genannte Sachstandsbericht vom 25. Mai 2020, der die bis dahin erfolgten Ermittlungen zusammenfasste, empfahl gerade nicht den Erlass eines (Europäischen) Haftbefehls und auch die Bundesanwaltschaft blieb untätig. Die Ermittlungen hatten schlicht keinen dringenden Tatverdacht gegen Kenan Ayas generiert, in dem Sachstandbericht war die Rede davon, dass er „mutmaßlich“ der Regionsverantwortliche von Nordrhein gewesen sein. Hätte hingegen ein dringender Tatverdacht aus Sicht der Strafverfolgungsbehörden vorgelegen, hätte nahe gelegen, zu diesem Zeitpunkt den europäischen Haftbefehl zu beantragen, der dann zur Anwendung gekommen wäre, wenn Kenan Ayas wegen des Ablaufs seines Reisepasses nach Zypern hätte zurückkehren müssen.

Soweit aus der uns vorliegenden Akte ersichtlich, ruhten aber die Ermittlungen schlicht für ca. zehn Monate. Das BKA entfaltete erst im am 4. März 2021 wieder eine Aktivität und fragte beim Bundesamt für Verfassungsschutz nach, ob dort neue Erkenntnisse zu Kenan Ayas vorlägen. Daraufhin meldete das Bundesamt am 23. April 2021, „Kenan Ayaz“ sei in der Schweiz „in leitender Funktion für die PKK tätig“. In einem Vermerk vom 28. Mai 2021 vermerkte das BKA, dass es keine Erkenntnisse zu Kenan Ayaz in Deutschland mehr gäbe, dass aber der polizeiliche Nachrichtenaustausch mit Zypern ergeben hätte, dass er regelmäßig nach Zypern reise bzw. dort sei. Weitere Maßnahmen wurden nicht angeregt, insbesondere nicht der Erlass eines (Europäischen) Haftbefehls. Die Ermittlungen gaben also auch zu diesem Zeitpunkt aus Sicht des Bundeskriminalamts bzw. der Bundesanwaltschaft offenkundig noch keinen dringenden Tatverdacht her.

Anschließend geschah in den Ermittlungen erneut – soweit aus den Akten ersichtlich – elf Monate lang nichts. Aus Gründen, die sich nicht aus der der Akte ergeben, begann der ermittelnde Staatsanwalt Mitte April 2022 damit, die Akte zu sichten und am 11. Mai 2022 beantragte er den Erlass eines Europäischen Haftbefehls, der antragsgemäß vom Ermittlungsrichter des BGH am 31. Mai 2022 erlassen wurde. Die Beweisgrundlage auf der nunmehr der Haftbefehl beantrage wurde, hatte sich seitdem ersten und einzigen Sachstandsvermerk vom 22. Mai 2020 nicht verändert. Es langen im Mai 2022 auch keine anderen Beweise und Erkenntnisse – bis auf das Behördenzeugnis bezüglich der Schweiz, das jedoch für den Tatvorwurf keine Rolle spielt– vor. Während also zwei Jahr zuvor offenkundig noch kein dringender Tatverdacht gesehen worden war, war dies nun knapp zwei Monate vor dem NATO-Gipfel in Madrid und dem Besuch des Generalbundesanwalts bei Erdogan der Fall. Und der zu diesem Zeitpunkt beantragte Haftbefehl betraf einen Menschen, der nicht nur ein langes Verfolgungsschicksal in der Türkei hatte, sondern auch ein Angeklagter in dem KCK-Hauptverfahren ist. Wenn dies alles nur Zufall ist, was natürlich auch möglich ist, müsste die Bundesanwaltschaft erklären, warum der Europäische Haftbefehl auf unveränderter Beweisgrundlage erst unmittelbar vor diesen Ereignissen und in einer Zeit beantragt worden ist, als Erdogan massiven Druck auf die NATO-Staaten machte, die PKK und die kurdische Bewegung zu verfolgen.

Der politische Charakter des Verfahrens zeigt sich schließlich auch darin, dass die Beweisgrundlage äußerst schwach ist und die Beweisführung zu einem erheblichen Teil über nicht überprüfbare geheimdienstliche Angaben geführt werden soll sowie über allgemeine Behauptungen dazu, wie die PKK ganz allgemein in Deutschland organisiert sei und davon ohne weitere Beweise Schlüsse auf die Person von Herrn Ayas gezogen werden.

Der Fall von Herrn Ayas steht damit nicht allein. In den zehn Jahren, während derer § 129b-Verfahren wegen mitgliedschaftlicher Betätigung in der PKK geführt werden, kam es zu einem massiven Absenken des Beweismaßstabes. Gegen diesen abgesenkten Beweismaßstab ist es faktisch unmöglich, sich schweigend zu verteidigen, weshalb hierin ein Verstoß gegen Art. 6 EMRK liegt.

Dieser abgesenkte Beweismaßstab lässt für eine Verurteilung wegen vermeintlicher Mitgliedschaft in der PKK Behördenzeugnisse des Verfassungsschutzes und/oder wenige SMS oder Telefonanrufe ausreichen, aus denen sich eine Position der kommunizierenden Person in der PKK-Hierarchie ergeben sollen. Wenn Anschluss A eine SMS schreibt, in der steht, „Organisiert eine Aktion für Afrin“ und Anschluss B antwortet, „Ja, Abi“, dann soll das aus Sicht der deutschen Strafverfolgungsbehörden bereits einen Beleg dafür darstellen, dass die mit „Abi“ angesprochene Person ein höher gestellter Kader – ein Gebiets- oder Regionsverantwortlicher – ist, der einen ihm unterstehenden Kader oder sogenannten Frontarbeiter eine Anweisung gegeben hat. Eine solche angebliche Anweisung gilt dann als eine strafbare Betätigungshandlung. Wenn der Anschluss A einige SMS dieser Art verschickt und erhält und noch einmal zu einem Treffen von Personen einlädt, die als PKK-Kader gelten, dann reicht dies für eine Verurteilung zu einer Haftstrafe wegen Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung aus mit den Folgen, dass die betroffene Person, sollte sie keinen deutschen Pass haben, ihren Flüchtlingsstatus verliert, ausgewiesen und nach dem Willen der Behörden auch in die Türkei abgeschoben wird, soweit die Verwaltungsgerichte dies nicht rechtzeitig untersagen.

Auch im Fall von Herrn Ayas sind die vermeintlichen Belege für die erhobenen Vorwürfe sehr dürftig. Als Beweismittel in der Anklage werden fast ausschließlich SMS, wenige Telefonate und Erkenntnisse von Verfassungsschutzbehörden aufgeführt. Die Zuschreibung der SMS und Anrufe zu Herrn Ayas fußt maßgeblich darauf, dass in einigen Telefonaten der ihm zugeschriebene Anschlussinhaber mit „Kenan“ angesprochen wurde. Kenan ist allerdings ein sehr verbreiteter Name und auch in den abgehörten Telefonaten gibt es mindestens einen weiteren Kenan. In den ihm zugeschriebenen Telefonaten und SMS soll er zu Demonstrationen aufgerufen bzw. diese mit-organisiert haben, er soll sich mit Personen verabredet haben, Menschen zu einem Besuch ins Krankenhaus geschickt oder über Essen geredet haben. Nach Auffassung der Ermittlungsbehörden soll die vermeintlich hohe Stellung des Sprechers bzw. SMS-Schreibers daran abzulesen sein, dass er zum Teil mit „Abi“ angesprochen worden sei.

Die Ermittlungen machen den Anschein, dass nur sehr oberflächlich und mit einem klaren Ziel vor Augen ermittelt worden ist. Es sollten einzelne Gesprächsinhalte oder Daten gefunden werden, die die These stützen könnten, dass Kenan Ayas Regionalverantwortlicher an zwei Orten gewesen sei. Ausgeblendet wurden demgegenüber Inhalte der SMS und Telefongesprächen, die gegen diese These sprechen.

Eine deutliche Leerstelle ist hier jegliche Auseinandersetzung damit, dass es zu der angeblichen hohen Stellung von Herrn Ayas nicht passt, dass er unter seinem echten Vornamen aufgetreten sein soll. Die Anklage versucht dies so umzudeuten, dass sie seinen echten Vornamen als „Deckname Kenan“ bezeichnet. Nach den Feststellungen von Oberlandesgerichten in anderen Verfahren wegen Mitgliedschaft in der PKK haben aber selbst Kader auf Ebene der Gebiete sogenannte „Decknamen“ und erst recht solche, die höher gestellt gewesen sein sollen.

Ebenso setzt sich die Anklage nicht damit auseinander, dass in Bezug auf die angeblichen Stellungen von Herrn Ayas in Hamburg die Ermittlungen eine Vielzahl widersprüchlicher Informationen dazu ergeben haben, welche Person oder Personen eigentlich im Jahr 2018/2019 der oder die PKK-Verantwortliche(n) für das Gebiet Hamburg und die Region Hamburg gewesen sein soll oder sollen.

Insbesondere in dem Urteil eines anderen Senats des Oberlandesgerichts Hamburg, der einen Mustafa Celik als Gebietsleiter für Bremen für das Jahr 2018/2019 verurteilt hat, wird nicht der Name von Herrn Ayas als vermeintlich dem Celik übergeordneter Kader erwähnt, sondern vielmehr sollen die höheren Kader „Zozan“ und „Yasar“ geheißen haben. Es hat somit den Anschein, dass bei der großen Masse an überwachten Telefonaten und SMS nur diejenigen gezielt herausgesucht worden sind, die vermeintlich die Behauptung des Verfassungsschutzes über Kenan Ayas stützen, und dieser These widersprechende Informationen außen vorgelassen worden sind.

Trotz der erheblichen Schwierigkeiten, denen sich Herr Ayas durch die genannte Ermittlungs- und Verfahrensführung ausgesetzt sieht und die mit der Verweigerung der Beiordnung eines zweiten Pflichtverteidigers korrespondiert, wird er von seinem Recht Gebrauch machen, sich schweigend zu verteidigen, aber er wird nicht zu den politischen Vorwürfen schweigen.