Brief von Kenan Ayaz: Die türkische Besatzungsmentalität begreifen

Kenan Ayaz ist seit Anfang Juni in der JVA Hamburg unter verschärften Haftbedingungen inhaftiert. Ein Beispiel dafür ist ein Brief zur türkischen Besatzungsmentalität an seinen zyprischen Verteidiger, der eineinhalb Monate unterwegs war.

Mitte März wurde Kenan Ayaz am Flughafen von Larnaka in der Republik Zypern aufgrund eines Auslieferungsersuchens aus Deutschland festgenommen. Die bundesdeutschen Strafverfolgungsbehörden beschuldigen Ayaz der Mitgliedschaft in einer ihrer Meinung nach „terroristischen“ Vereinigung im Ausland – gemeint ist die PKK – und haben Anklage §§129a/b Strafgesetzbuch (StGB) erhoben. Nach seiner Ausweisung aus Zypern befindet sich Kenan Ayaz seit Anfang Juni in Untersuchungshaft unter verschärften Haftbedingungen in der JVA Hamburg-Holstenglacis. Ein Beispiel für die Haftbedingungen ist ein Brief, den Ayaz an seinen zyprischen Verteidiger Efstathios C. Efstathiou im Untersuchungsgefängnis geschrieben hat und der eineinhalb Monate unterwegs war.

Brief von Kenan Ayaz

In dem Brief bewertet Kenan Ayaz die Besatzungsmentalität der Türkei und schreibt unter anderem:

„Heute habe ich mich mit meinem Verteidiger Efstathiou getroffen. In diesem Sinne möchte ich dem zypriotischen Volk meinen Dank aussprechen. Das zyprische Volk ist seiner humanitären und gewissenhaften Verantwortung nachgekommen und hat seine historischen Werte geschützt. Wir teilen mit dem zypriotischen Volk einen gemeinsamen Schmerz.

Apropos Leid: Heute ist auch der Jahrestag des Massakers vom 6. und 7. September 1955. Seit dem Pogrom sind 68 Jahre vergangen. Tatsächlich bedeuten der 6. und 7. September nicht nur ein Massaker. Er ist auch das Datum, an dem die Besetzung Zyperns begann. Historisch besteht kein offensichtlicher Zusammenhang, aber aus aktuellem Anlass möchte ich feststellen, dass es mir aufgefallen ist. Natürlich möchte ich auch auf die historischen Gründe eingehen und darauf, wie sich die Besatzungsmentalität offenbart hat.

Ein oder zwei Jahre vor dem Zweiten Weltkrieg: Der türkische Staat, der die Bilanzen des Zweiten Weltkriegs in eine Chance verwandelte, winkte damals mit einer großen Parole. Die Parole, die er kundgab, um die Besetzung von Antakya zu realisieren, lautete: ,Hatay ist türkisch und wird türkisch bleiben.' Kurz nach dieser Parole überließ Frankreich, das damals von Deutschland bedroht wurde, Hatay ganz entspannt dem türkischen Staat.

Später entwickelte der türkische Staat, der daraus seine Konsequenzen zog, eine zweite Parole und zwar: ,Zypern ist türkisch und wird türkisch bleiben.' Diese Parole wurde ab Mitte der 1950er Jahre ausgegeben. Diese Parole war die des Krieges, den der türkische Staat als Mitglied der NATO gegen die Bevölkerung Zyperns vorbereitete, die sich während des Kalten Krieges gegen den britischen Kolonialismus auflehnte. Sie führte rund 20 Jahre später zur Invasion Zyperns durch den türkischen Staat.

Der Beginn der Invasion Zyperns wurde mit dem Massaker vom 6. und 7. September eingeläutet. Die Worte von Sabri Yirmibeşoğlu, dem damaligen Generalsekretär des Sicherheitsrates, machen diese Tatsache hinreichend deutlich: ,Der 6. und 7. September war eine Operation der Spezialkriegsführung und war hervorragend organisiert. Sie hat ihr Ziel erreicht.' Seit dem Massaker vom 6. und 7. September 1955, das er so beschrieb, sind nun 68 Jahre vergangen. Obwohl das Massaker in Istanbul, bei dem das Eigentum nicht-muslimischer Völker, vor allem der griechischen, armenischen und jüdischen Bevölkerung, geplündert, viele Menschen massakriert und Hunderte von Frauen vergewaltigt wurden, schon lange zurückliegt, ist es noch frisch in der Erinnerung.

Die Zeitung Istanbul Express, die damals als staatsnah galt, löste die Anschläge mit einem provokanten Artikel aus, in dem es hieß, dass „die Griechen“ eine Bombe auf Atatürks Haus in Thessaloniki geworfen haben. Die Zeitung, die eine Auflage von rund 20.000 Exemplaren hatte, veröffentlichte zwei Stunden vor Beginn der Ereignisse eine zweite Ausgabe mit der Schlagzeile ,Unser Atatürk-Haus wurde bombardiert'. 290.000 Exemplare der Zeitung wurden an diesem Tag verkauft. Mitglieder der ,Zypern ist türkisch'-Vereinigung, die damals gegen Nicht-Muslime organisiert war, verteilten die Zeitung in ganz Istanbul und bereiteten den Boden für ein Massaker an nicht-muslimischen Menschen.

Daraufhin gingen am 6. und 7. September Tausende von provozierten und aufgehetzten Menschen mit Spitzhacken, Äxten und Stöcken auf die Straße und plünderten Häuser und Geschäfte. Der Ausgangspunkt war Beyoğlu, von dort aus griff das Pogrom über auf die Viertel Kurtuluş, Şişli, Nişantaşı, Eminönü, Fatih, Balat, Eyüp, Bakırköy, Yeşilköy, Ortaköy, Arnavutköy, Bebek, Kadıköy, Kuzguncuk und Çengelköy, in denen es eine große griechische Bevölkerung gab. Die Vorfälle, bei denen die Sicherheitskräfte nur zuschauten, aber nicht eingriffen, breiteten sich allmählich aus.

Nach offiziellen Angaben wurden 4.214 Häuser, 1004 Arbeitsplätze, 73 Kirchen, eine Synagoge, zwei Klöster und 26 Schulen zerstört. Dutzende von Menschen verloren ihr Leben. Hunderte von Menschen wurden verletzt. Hunderte von Frauen wurden vergewaltigt. Nach dem Massaker vom 6. und 7. September wurde das gesamte Eigentum der griechischen Bevölkerung geplündert. Die Menschwn wurden massakriert und vergewaltigt, und als Folge dieser Plünderung war ein großer Teil der nicht-muslimischen Bevölkerung, insbesondere die Griechinnen und Griechen, gezwungen, ins Ausland auszuwandern. Auf diese Weise wurde nach und nach der Grundstein für die Besetzung Zyperns gelegt.“

Weiter schreibt Kenan Ayaz, er sei ihm unverständlich, warum sich die internationale Arena heute nicht gegen die Besetzung Zyperns ausspricht: „Wenn wir verstehen wollen, was heute geschieht, müssen wir den 6. und 7. September gut verstehen. Denn es wird noch viele weitere 6. und 7. September geben. Um das zu verhindern, müssen wir die Urheber dieser Mentalität verstehen und ein Bewusstsein dafür schaffen, wie wir sie bekämpfen können. Wir dürfen sie nicht vergessen.“

Prozessbeginn am 3. November

Der Prozess gegen Kenan Ayas beginnt am 3. November. Das Solikomitee #FreeKenan ruft zu einer Kundgebung vor dem Gericht und zur Prozessbeobachtung auf. Die Kundgebung beginnt um 8.30 Uhr vor dem Strafjustizgebäude Hamburg, Sievekingplatz 3.

Zuvor findet eine Solidaritätskundgebung mit Musik von Umut Botan am kommenden Samstag, 28. Oktober, um 14 Uhr auf Jungiusbrücke in direkter Nähe des Untersuchungsgefängnisses statt.

Schreibt Kenan Ayaz

Das Solikomitee #FreeKenan ruft auch dazu auf, dem kurdischen Aktivisten zu schreiben: Kenan Ayaz ist bei den Behörden als Kenan Ayas registriert. Wer ihm schreiben möchte, muss diesen Namen verwenden, weil die Briefe sonst nicht ankommen. Seine Postadresse in der Untersuchungshaft lautet Kenan Ayas, Holstenglacis 3, 20355 Hamburg.

Weitere Infos: http://www.kenanwatch.org

Da die Solidaritätsarbeit wie zum Beispiel die Begleitung des Prozesses mit einem hohen Aufwand an Kosten verbunden sein wird, bittet das Komitee um Spenden an Rote Hilfe e.V. OG Hamburg, IBAN DE06 2001 0020 0084 610203, Stichwort: Free Kenan

Foto: Demonstration gegen die Auslieferung von Kenan Ayaz in Nikosia, Mai 2023