Die Demokratische Partei der Völker (HDP) fordert eine Aufarbeitung des Pogroms gegen Nichtmuslime in der Türkei vom September 1955. In einer Erklärung des Parteivorstands wird das Pogrom vor 65 Jahren als „eine der bittersten und beschämenden Seiten in der Geschichte der Türkei“ bezeichnet: „Am 6. und 7. September 1955 fand in Istanbul, Izmir und weiteren Orten eine geplante und systematische Angriffswelle gegen Griechen und Armenier sowie weitere Christen und Juden statt.“
Nach offiziellen Angaben seien allein in Istanbul 73 Kirchen, acht orthodoxe heilige Quellen, zwei Klöster und 5.538 Häuser und Geschäfte geplündert und zerstört worden. 3.584 davon gehörten der griechischen Minderheit. Viele Menschen wurden getötet, Frauen wurden vergewaltigt.
Die HDP stellt dazu fest: „Obwohl bereits 65 Jahre seit den Angriffen vergangen sind, werden die Angreifer wie bei allen Massakern in der Geschichte der Republik geschützt und das Pogrom wird verschleiert. Die Angreifer sind sogar befördert und belohnt worden.“
Die HDP fordert eine Aufarbeitung des Pogroms, die Aufklärung der Täter, die Feststellung der Toten und der materiellen Schäden und eine Wiedergutmachung.
Hintergrund: Der Pogrom vom 6./7. September 1955
Der Pogrom gegen die Nichtmuslime Istanbuls im September 1955 gehört zu einem der dunkelsten Kapitel der türkischen Zeitgeschichte. Er begann als eine anti-griechische Kundgebung türkischer Nationalisten am 6. September und artete binnen weniger Stunden in einen Zerstörungsfeldzug gegen die griechische Bevölkerung Istanbuls aus, dem auch andere Nichtmuslime wie Armenier und Juden zum Opfer fielen. Mit Eisenstangen, Hacken und Knüppeln bewaffnet zog ein nationalistisch fanatisierter Mob in jene Bezirke Istanbuls, in denen Griechen, Juden und Armenier lebten und ihre Geschäfte betrieben. In Beyoğlu/Taksim (Pera), in der heute beliebten touristischen Einkaufsmeile im Herzen Istanbuls,warfen johlende Banden in der Nacht vom 6. auf den 7. September 1955 die Schaufensterscheiben der Geschäfte und Kaufhäuser mit Steinen ein, demolierten Autos, verprügelten Griechen und Angehörige anderer nichtmuslimischer Bevölkerungsgruppen. In den folgenden zwei Tagen zogen Nationalisten plündernd und brandschatzend durch die Stadtviertel Ortaköy, Balıklı, Samatya und Fener sowie auf die Prinzeninseln im Marmarameer, Gebiete mit hohem nichtmuslimischen Bevölkerungsanteil, zerstörten ihr Eigentum, quälten und drangsalierten dessen Besitzer und vergewaltigten Frauen. Friedhöfe, Kirchen und Synagogen blieben von der Zerstörungswut nicht verschont, mehrere Geistliche wurden getötet.
Danach kamen die Plünderer und ließen mitgehen, was nicht niet- und nagelfest war. Fotografien zeigen: Die İstiklal Caddesi hatte sich an diesen beiden Septembertagen in einen Trümmerhaufen verwandelt. Geschäftsartikel, Gebrauchsgegenstände und Möbelstücke hatten die Täter auf die Straße geworfen. Durcheinander geworfene Stoffballen, Kleidungsstücke, Teppiche, Backwaren, Nippes, zertrümmertes Porzellan und zerstörte Glaswaren bestimmten in diesen Tagen das Stadtbild. Die Plünderer, gewöhnliche Istanbuler Bürgerinnen und Bürger, machten sich über das Diebesgut her und nahmen die auf die Straßen geworfenen Kühlschränke, Waschmaschinen, Staubsauger, Nähmaschinen an sich, die in diesen Jahren ein unerschwinglicher Luxus für die meisten Bürger der Türkei waren. Die muslimisch-türkische Bevölkerung wurde von den Plünderern aufgefordert, sich durch das Anbringen der türkischen Fahne auszuweisen. Umgekehrt wurden griechische, jüdische und armenische Häuser und Geschäfte mit einer Aufschrift (Nichtmuslim, Nichttürke, Griechisch) oder mit einem Kreuz gekennzeichnet. Die Ordnungskräfte kamen ihrer Aufgabe nicht nach, Polizisten sahen dem Treiben untätig zu oder beteiligten sich selbst an der Gewalt. In den Protokollen der späteren Gerichtsverhandlung über diese Ereignisse steht der Ausspruch eines Polizisten, der ein hilfesuchendes Opfer mit den Worten abwimmelt: „Heute bin ich kein Polizist – heute bin ich Türke".