PKK-Prozess: Auf Zypern gilt Kenan Ayaz als Freiheitskämpfer

Der in Hamburg wegen PKK-Mitgliedschaft angeklagte Kurde Kenan Ayaz gilt auf Zypern als Freiheitskämpfer. Sein zyprischer Verteidiger betonte in der heutigen Verhandlung das hohe Informationsinteresse der Öffentlichkeit.

Vor dem Oberlandesgericht Hamburg ist der vergangene Woche eröffnete Prozess gegen Kenan Ayaz (offizielle Schreibweise: Ayas) fortgesetzt worden. Der kurdische Aktivist ist nach Paragraph 129b wegen mitgliedschaftlicher Betätigung für die PKK angeklagt und wurde im Juni aus Zypern nach Deutschland ausgeliefert und in Hamburg inhaftiert. Als der Angeklagte heute den Verhandlungssaal betrat, standen die Prozessbeobachter:innen in dem mit einer Scheibe abgetrennten Zuschauerraum auf und begrüßten ihn mit Beifall.

Für den zweiten Verhandlungstag waren zwei Zeugen der Anklage geladen. Vor der Zeugenvernehmung nahm der zyprische Rechtsanwalt Efstathios C. Efstathiou, der Kenan Ayaz zusammen mit Antonia von der Behrens aus Berlin und Stephan Kuhn aus Frankfurt am Main verteidigt, Stellung zur beabsichtigten Anordnung des „Selbstleseverfahrens“ durch den Hamburger Staatsschutzsenat. Das Selbstleseverfahren ist in PKK-Prozessen in Deutschland gängiges Procedere zur zeitlichen Verkürzung der Verhandlungen, da ein Großteil der von der Staatsanwaltschaft eingeführten Beweismittel aus Abhörprotokollen besteht. Urkunden, die im Selbstleseverfahren nach § 249 Abs. 2 StPO eingeführt werden, werden nicht in öffentlicher Hauptverhandlung verlesen, sondern nur vom Gericht und den Verfahrensbeteiligten. Die Öffentlichkeit hat nicht die Möglichkeit, Kenntnis von ihrem Inhalt zu nehmen.

Hohes Informationsinteresse der zyprischen Öffentlichkeit

„Das Selbstleseverfahren beinhaltet also eine Beschränkung des Öffentlichkeitsgrundsatzes“, stellte Rechtsanwalt Efstathiou fest und führte dazu weiter aus: „Dieser Umstand wiegt in dem vorliegenden Verfahren besonders schwer. Es gibt ein ganz erhebliches Interesse der zypriotischen Öffentlichkeit an diesem Strafverfahren gegen Kenan Ayas. Da die Kenan Ayas vorgeworfenen Taten in Zypern nicht strafbar sind, hat die zypriotische Öffentlichkeit ein Interesse daran zur erfahren, wie die Beweisführung in Deutschland erfolgt. Im Gegensatz zur deutschen Öffentlichkeit ist die zyprische Öffentlichkeit mit dieser Art Verfahren nicht vertraut, weshalb das Informationsinteresse besonders hoch ist.“

Europäischer Haftbefehl: Deutschland exportiert seine Definition von Terror

Das sei auch im Zusammenhang mit dem Europäischen Haftbefehl gegen seinen Mandanten von hohem Gewicht, so Efstathiou. Kenan Ayaz war im März auf Zypern aufgrund eines vom Bundesgerichtshof beantragten Haftbefehls festgenommen worden. Der Europäische Haftbefehl ermöglicht eine besonders vereinfachte Übergabe von in einem Mitgliedstaat gesuchten Beschuldigten innerhalb der Europäischen Union, erklärte Rechtsanwalt Efstathiou: „Unter anderem bei strafrechtlichen Vorwürfen aus dem Bereich Terrorismus wird die ansonsten erforderliche Prüfung der gegenseitigen Strafbarkeit ausgeschlossen. Damit stellt der Europäische Haftbefehl ein Instrument dar, das es jedem Mitgliedstaat ermöglicht, seine Definition einer terroristischen Vereinigung zu exportieren und die Übergabe vermeintlicher Mitglieder dieser terroristischen Vereinigungen zu fordern – auch dann, wenn das fragliche Verhalten in dem ersuchten Mitgliedstaat gerade nicht als terroristisch oder sogar nicht als strafbar gilt. Somit ist die Wahrscheinlichkeit, dass europäische Auslieferungsersuchen aus dem Bereich des Terrorismus in dem Maß in dem ersuchten Staat für erhebliche öffentliche Aufmerksamkeit und kontroverse Diskussionen sorgt, wie das vorgeworfene Verhalten in dem ersuchten Staat gerade nicht strafbar ist und auch nicht als terroristisch wahrgenommen wird.“

Betätigungshandlungen für die PKK nur in Deutschland eine Straftat

Diese Situation ergebe sich unter anderem bei der Verfolgung von vermeintlichen Mitgliedern der PKK durch deutsche Strafverfolgungsbehörden, führte der Rechtsanwalt in seiner Stellungnahme aus: „Die ansonsten legalen und friedlichen in Deutschland als strafbare Betätigungshandlungen für die PKK verfolgten Taten sind in anderen europäischen Staaten gerade nicht strafbar, so zum Beispiel in der Schweiz, Belgien oder eben in der Republik Zypern. Mit dem Instrumentarium des Europäischen Haftbefehls kann deshalb im Fall von Terrorismusvorwürfen auch die Überstellung von Personen aus diesen Staaten verlangt werden. Dieser Umstand birgt die Möglichkeit in sich, dass die Überstellung sehr kontrovers in dem ersuchten Mitgliedstaat ist und dort für entsprechende kontroverse Diskussionen sorgt.“

Unverständnis und Proteste auf Zypern

Zur „zeitgeschichtlichen Bedeutung“ des Auslieferungs- und Strafverfahrens erläuterte Rechtsanwalt Efstathios C. Efstathiou, dass die Verhaftung seines Mandanten am 15. März 2023 bei der Bevölkerung, bei Politiker:innen und den Medien auf Zypern auf großes Unverständnis gestoßen sei: „Auf Zypern leben die Menschen aufgrund der türkischen Invasion im Jahr 1974 mit der Realität einer geteilten Insel und einer faktischen Besetzung des Nordens der Insel durch die Türkei. Sie sind aggressiven, verbalen und tätlichen türkischen Provokationen und Übergriffen ausgesetzt. Aus diesem Grund gibt es eine sehr breite Sympathie mit der kurdisch-patriotischen Bewegung und entsprechend hat Kenan Ayas nicht nur Asyl in Zypern erhalten, sondern erfuhr weitgehende Unterstützung nach seiner Festnahme. Es gab große Demonstrationen, die sich gegen seine Auslieferung richteten, die Medien berichteten laufend von den Gerichtsverhandlungen, in denen über die Auslieferung entschieden wurde, und Politiker fast aller im Parlament vertretenen Parteien sprachen sich öffentlich gegen seine Übergabe an Deutschland aus. Und auch das Verfahren vor diesem Gericht wird nun sehr aufmerksam von den zypriotischen Medien und der Politik beobachtet. Es gibt ein großes mediales Interesse an dem Verfahren. Dieses Verfahren ist für die Republik Zypern, einem EU-Mitgliedstaat, von entsprechender zeitgeschichtlicher Bedeutung, dem dort auch eine gesamtgesellschaftliche Bedeutung zukommt.“

Grundsatz der Öffentlichkeit kann nicht beschnitten werden

Die Verteidigung gehe davon aus, „dass der im deutschen Strafprozess mit überragender Bedeutung versehene Grundsatz der Öffentlichkeit nicht ohne Berücksichtigung der europäischen Öffentlichkeit beschnitten werden kann. Diese hat auch über Zypern hinaus ein großes Interesse daran, wie sich trotz unionsrechtlicher und gesamteuropäischer Grundlagen gerade die unterschiedliche Anwendung des Terrorismusstrafrechts gestaltet“.

Zyprischer Abgeordneter zur Prozesseröffnung angereist

Bereits beim Prozessauftakt am vergangenen Freitag gab es eine starke zypriotische Präsenz innerhalb und außerhalb des Gerichts. Neben Rechtsanwalt Efstathios C. Efstathiou war auch der Parlamentsabgeordnete Giorgos Koukoumas (AKEL) aus Zypern angereist. Das Verteidigerteam von Kenan Ayaz wies in einem Eröffnungsplädoyer die Behauptungen der Staatsanwaltschaft zurück und legte dar, dass es sich um einen politischen Prozess handelt. Es gebe viele Hinweise darauf, dass Kenan Ayaz angeklagt wurde, weil das türkische Regime es so wolle. Die Verteidiger:innen konnten nachweisen, dass die Staatsanwaltschaft zwei Jahre lang damit gewartet hat, einen Europäischen Haftbefehl gegen ihren Mandanten zu beantragen, und dieser Antrag erst kurz vor dem NATO-Gipfel Ende Juni 2022 in Madrid erfolgte. Während dieses Gipfels wurde der Beitritt Schwedens und Finnlands zur NATO erörtert und Erdogan übte öffentlich Druck auf die NATO-Staaten aus, die kurdische Bewegung zu kriminalisieren und politisch aktive Kurd:innen und mutmaßliche Mitglieder der PKK an die Türkei auszuliefern.

Einstellung des Verfahrens beantragt

Nach dem Eröffnungsplädoyer beantragte die Verteidigung die Einstellung des Verfahrens gegen Kenan Ayaz und argumentierte, dass die Verfolgungsermächtigung des Bundesjustizministeriums zur Durchführung von Verfahren gegen mutmaßliche PKK-Mitglieder, die eine Voraussetzung für diese Art von Anti-Terrorismus-Anklagen ist, vom Gericht für nichtig erklärt werden sollte. Die Verteidiger:innen machten deutlich, dass diese Verfolgungsermächtigung nicht dazu dient, Länder wie die Türkei zu schützen. Die Türkei respektiere das Völkerrecht nicht, sondern begehe im Gegenteil Aggressionsakte gegen andere Staaten und verletze die Menschenrechte ihrer Bürgerinnen und Bürger, insbesondere der Kurd:innen.

Kenan Ayaz: Die Kurd:innen führen einen Existenzkampf

Kenan Ayaz gab ebenfalls eine Erklärung ab, um den Einstellungsantrag seiner Verteidigung ergänzend zu begründen. In seiner Erklärung verwies er auf die Verletzungen des Völkerrechts durch die Türkei unter Erdogan, die militärischen Aktionen gegen die kurdische Bewegung in Rojava und im Nordirak sowie gegen die Kurd:innen in der Türkei. Er argumentierte, dass der Kampf des kurdischen Volkes angesichts dieser Art von Gewalt und Verfolgung durch die Türkei ein Kampf um die Existenz sei. Er prangerte auch die anhaltende türkische Besatzung Zyperns an und erklärte, dass dieselbe türkisch-nationalistische Ideologie, die zu dieser Besatzung geführt hat, auch den Kampf gegen die Kurd:innen vorantreibt.

Schwierige Bedingungen für den Angeklagten

Das Verteidigerteam konstatierte bereits nach dem ersten Verhandlungstag, es sei deutlich geworden, dass es für ihren Mandanten „sehr schwierig sein wird, sich vor Gericht in einem fairen Verfahren zu verteidigen“. So habe die vorsitzende Richterin die Beschwerde von Kenan Ayaz und seinen Verteidiger:innen, dass er aufgrund der sehr schlechten türkischen Verdolmetschung der Verhandlung nicht folgen könne, „unverblümt“ zurückgewiesen, teilten die Verteidiger:innen am Montag mit: „Es war klar, dass die Oberste Richterin nicht daran interessiert war, Kenan Ayaz sein Grundrecht auf eine qualifizierte Verdolmetschung zu garantieren, denn sie wies seine Behauptung pauschal zurück, ohne die Angelegenheit zu prüfen.“

Weitere Verhandlungstermine

Die Verhandlung wird am Montag, 13. November, fortgesetzt. Die weiteren Verhandlungen sind für den 16.11., 23.11., 24.11., 27.11., 30.11., 05.12., 07.12.,11.12., 14.12., 19.12., 20.12. und 21.12.2023 terminiert, Beginn ist jeweils um 9.30 Uhr.

Solidaritätskomitee: Schreibt Kenan Ayaz

Das Solidaritätskomitee #FreeKenan ruft dazu auf, dem kurdischen Aktivisten zu schreiben: Kenan Ayaz ist bei den Behörden als Kenan Ayas registriert. Wer ihm schreiben möchte, muss diesen Namen verwenden, weil die Briefe sonst nicht ankommen. Seine Postadresse in der Untersuchungshaft lautet Kenan Ayas, Holstenglacis 3, 20355 Hamburg.

Weitere Infos: http://www.kenanwatch.org

Da die Solidaritätsarbeit wie zum Beispiel die Begleitung des Prozesses mit einem hohen Aufwand an Kosten verbunden sein wird, bittet das Komitee um Spenden an Rote Hilfe e.V. OG Hamburg, IBAN DE06 2001 0020 0084 610203, Stichwort: Free Kenan

Foto: Solidaritätskundgebung für Kenan Ayaz zum Prozessauftakt, 3. November 2023