Kenan Ayaz: „Widerstand ist ein anderer Name für das kurdische Überleben“
Vor dem OLG Hamburg ist der Prozess gegen den kurdischen Aktivisten Kenan Ayaz fortgesetzt worden. Ein BKA-Beamter war als Zeuge geladen.
Vor dem OLG Hamburg ist der Prozess gegen den kurdischen Aktivisten Kenan Ayaz fortgesetzt worden. Ein BKA-Beamter war als Zeuge geladen.
Vor dem Oberlandesgericht Hamburg hat ein weiterer Prozesstag gegen den kurdischen Aktivisten Kenan Ayaz (Behördenname: Ayas) stattgefunden. Der im Juni von Zypern an Deutschland ausgelieferte Kurde ist nach §129b StGB wegen mitgliedschaftlicher Betätigung für die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) angeklagt. Er wird beschuldigt, Demonstrationen und Kundgebungen organisiert und sich an Spendensammlungen beteiligt zu haben. Bei einer Verurteilung drohen ihm mehrere Jahre Gefängnis.
Beim gestrigen Verhandlungstag war zunächst der Zeuge Tobias H. geladen. Der Beamte des Bundeskriminalamtes (BKA) hatte im Jahr 2019 die Telekommunikationsüberwachung von Ayaz durchgeführt. Vor Gericht schilderte er, dass man vom Verfassungsschutz ein sogenanntes Zeugnis über den Angeklagten erhalten habe. Das BKA hätte damit die Aufgabe bekommen, die Person mit Decknamen „Kenan“ zu identifizieren. Dafür habe ein Youtube-Video vorgelegen, in dem Ayaz über Kapitalismuskritik spricht.
„Dringende Aktion für Mexmûr“ Kader-Anweisung?
Das BKA sollte überprüfen, ob die im Video als Kenan Ayaz bezeichnete Person die observierte Person sei und ihr ein bestimmtes Handy zugeordnet werden könne. Dazu sei an einem bestimmten Tag eine Personenkontrolle und Standortermittlung des Telefons durchgeführt worden. Tatsächlich wies sich Ayaz dann mit seinem zyprischen Pass aus. Von dem Telefon sei unter anderem eine Anweisung ausgegangen, dass eine „Dringende Aktion für Mexmûr“ – gemeint ist ein kurdisches Flüchtlingslager im Nordirak – eingeleitet werden solle. Außerdem sei ein „Sinevizyon“ (Präsentation mittels Projektor) angefordert worden und man hätte sich verabredet, „Kranke zu besuchen“. Dies wertete der Beamte als Beleg dafür, dass Kader-Anweisungen gegeben worden seien.
Verteidigung: Kein ernsthaftes Ermittlungsverfahren
Die Anwältin Antonia von der Behrens fragte, ob es denn weitere Beweise dafür gebe, dass besagtes Handy ständig von Ayaz benutzt worden sei, was der Zeuge verneinte. Weiterhin erklärte H., er habe die türkischsprachige Onlinepräsenz der „Hêzên Parastina Gel“ (Volksverteidigungskräfte, kurz HPG) ausgewertet – allerdings ohne dem Türkischen selbst mächtig zu sein. Er habe recherchiert, ob die bewaffneten Kräfte „Anschläge“ oder „Gefechte“ durchgeführt hätten, konnte aber nicht angeben, ob diese auf türkischem oder irakischem Staatsgebiet stattfanden, da er die Orte, etwa „Kommando-Hügel“, nicht zuordnen konnte.
Nach der Mittagspause erklärte die Verteidigerin Antonia von der Behrens, die Grundannahme der Verteidigung habe sich bestätigt: Es habe kein ernsthaftes Ermittlungsverfahren stattgefunden, außer der Telefonüberwachung sei nichts getan worden, was eine angeblich PKK-Mitgliedschaft Ayaz‘ belegen könnte. Zwei Jahre lang sei mit dieser Telefonüberwachung nichts passiert, dann wurde sie hervorgeholt und durchsucht, kritisierte die Berliner Juristin.
Im Anschluss wurde noch einige Zeit damit verbracht, dass die Staatsanwaltschaft verschiedene Anträge der Verteidigung ablehnte, auch zum Selbstleseverfahren. Beide Seiten erklärten sich einverstanden, auf den Zeugen Mustafa Çelik zu verzichten. Im Anschluss begann Kenan Ayaz eine umfangreiche Erklärung zu seinem persönlichen Hintergrund vorzutragen. Seine persönliche Geschichte ist beispielhaft für die Grausamkeit, die Kurd:innen seit mehr als einem Jahrhundert ertragen müssen. „Widerstand ist ein anderer Name für das kurdische Überleben“, erklärte Ayaz.
Widerstand als Tradition
So habe sein Großvater verhindert, dass die christlichen Suryoye aus ihrem Dorf im Tur Abdin dem Genozid von 1915 zum Opfer fielen. Später habe der Großvater nach Syrien fliehen müssen, da er am Aufstand von Şêx Seîdê Pîran (Scheich Said) beteiligt gewesen sei. Ayaz‘ Schilderung wurde zur Geschichtsstunde der Region Midyad, die in der nordkurdischen Provinz Mêrdîn (tr. Mardin) liegt. Seine gesamte Familie sei mit dem Wissen des Widerstandes gegen den Genozid an Assyrer:innen und Ezid:innen aufgewachsen, so Ayaz.
Weiter beschrieb der Angeklagte eindrücklich den türkischen Militärputsch am 12. September 1980 und die Qual der kurdischen Kinder, die in den Schulen geschlagen und gezwungen wurden, ihre Muttersprache zu unterdrücken. Dies schmerze Kenan Ayaz besonders, dass er sich schriftlich nicht in seiner Muttersprache ausdrücken könne. 1993 sei er 18-jährig mit seinem gerade einmal 13-jährigen Bruder festgenommen und tagelang gefoltert worden. Der Bruder habe sich nie wieder ganz von der Tortur erholt. Die Festnahme und spätere Verurteilung sei aufgrund einer unter Folter erzwungenen Aussage erfolgt. Der Verräter, ein Mehmet Tuncay, sei später ermordet worden.
Anfang der neunziger Jahre herrschte in Kurdistan die sogenannte Politik der verbrannten Erde als Mittel der staatlichen „Aufstandsbekämpfung“. Tausende kurdische Dörfer wurden von der türkischen Armee dem Erdboden gleichgemacht und etliche Menschen in die Flucht gezwungen. Ayaz sprach davon, dass zu jener Zeit Kräfte des tiefen Staates in der Türkei an der Macht gewesen seien und ausschließlich darauf hinwirkten, den Krieg aufrecht zu halten. Politische Akteure wie der frühere Staats- und Ministerpräsident Turgut Özal, die eine Lösung der kurdischen Frage anstrebten, seien ermordet worden.
Solidarität: Kundgebung vor nächster Verhandlung
Die Zeit reichte nicht aus, damit Ayaz seine gesamte Erklärung vortragen konnte. Der Prozess wird am Donnerstag, den 23. November, um 9:30 Uhr mit dem zweiten Teil von Ayaz‘ persönlicher Erklärung fortgeführt. Verhandelt wird in Saal 237 auf der ersten Etage. Um 8:30 Uhr beginnt eine Solidaritätskundgebung vor dem OLG am Sievekingplatz 3.
Foto: Solidaritätskundgebung für Kenan Ayaz zum Prozessauftakt, 3. November 2023