Mehmet Çakas: Der Terrorismus-Vorwurf ist entwürdigend

Seit Anfang September findet der PKK-Prozess gegen Mehmet Çakas vor dem OLG Celle statt. Der kurdische Aktivist weist die Terroranschuldigung gegen ihn als entwürdigend und erniedrigend zurück.

Der kurdische Aktivist Mehmet Çakas steht seit Anfang September in Celle vor Gericht. Dem 44-Jährigen wird von der Generalstaatsanwaltschaft Celle die Mitgliedschaft in der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) vorgeworfen, nach §§129a/b StGB eine „terroristische Vereinigung im Ausland“.

Mehmet Çakas wurde Anfang März aus Italien an die deutsche Justiz ausgeliefert. Er hatte in Deutschland politisches Asyl beantragt, das abgelehnt wurde. Daraufhin siedelte er nach Italien über und bat dort um Schutz. Doch weil er sich angeblich als Mitglied der PKK in Hannover und Bremen politisch und organisatorisch betätigt haben soll, wurde er Anfang Dezember 2022 auf Ersuchen der deutschen Strafverfolgungsbehörden in Italien in Auslieferungshaft genommen und befindet sich jetzt in Hannover in Untersuchungshaft.

In dieser Woche wurde der Prozess am Oberlandesgericht (OLG) Celle am Dienstag und Mittwoch fortgesetzt. Die Beweisaufnahme des Staatsschutzsenats neigt sich dem Ende zu. Die nächste Verhandlung ist am 21. November um 10 Uhr. Ab dem 28. November sind jeden Dienstag und Mittwoch Termine angesetzt, in denen Beweisanträge der Verteidiger Dr. Björn Elberling und Ulrich von Klinggräff erwartet werden, und dann die Plädoyers der Staatsanwaltschaft und Verteidigung. Zuletzt hat der Angeklagte die Möglichkeit, noch eine letzte Erklärung abzugeben.

Persönliche Erklärung von Mehmet Çakas

Eine Erklärung zu seiner Person gab Mehmet Çakas bereits bei der Verhandlung am 10. Oktober ab. „Es geht mir vor allem darum, dass ich meine Sicht auf die kurdische Geschichte und darauf, was diese ganz persönlich mit mir und meiner Familie zu tun hat, beschreiben möchte. Nicht, weil ich denke, dass das, was mir in meiner Biografie geschehen ist, ungewöhnlich schlimm ist. Nein, ich gehöre zu einem Volk, dem sehr viel Unrecht und Unterdrückung geschehen ist, und deshalb kenne ich auch unzählige Menschen, denen noch sehr viel Schlimmeres widerfahren ist als mir. Ich möchte, dass das Gericht versteht, dass der, der ich heute bin, nicht unabhängig von meiner Geschichte und der Geschichte meines Volkes gesehen werden kann. Bei uns Kurden und Kurdinnen ist es so, dass uns die Erfahrungen mit der Unterdrückung unseres Volkes entscheidend prägen“, sagte Çakas. „Es gibt einige Passagen in meinem Leben, bei denen es mir sehr schwer fällt, diese genauer zu beschreiben. Der Schmerz über das, was mir und meiner Familie angetan worden ist, ist manchmal zu groß, als dass ich die Bedeutung von bestimmten Ereignissen genauer beschreiben kann und will. Es ist meine ganz private Geschichte, ich kann diese nur begrenzt teilen.“

Der Terrorismus-Vorwurf ist erniedrigend und entwürdigend“

Zu der Anschuldigung des Terrorismus erklärte Mehmet Çakas: „Ich habe die gegen mich erhobene Anklage gelesen. Ich werde aufgrund bestimmter Informationen und technischer Überwachung während meines Aufenthalts in Deutschland, insbesondere in den Jahren 2018 bis 2021, angeklagt. Ich habe in dieser Zeit nach meiner Auffassung nichts Illegales getan und ausschließlich auf der Basis der Grundrechte gehandelt. Dennoch wird mir der erniedrigende und entwürdigende Vorwurf des Terrorismus gemacht. Diesen Vorwurf weise ich entschieden zurück. Insbesondere die Tatsache, dass die soziologischen und politischen Grundlagen der mir zur Last gelegten Taten ignoriert werden, zwingt mich zu einer umfassenden Bewertung, um mich gegen diese Vorwürfe zu verteidigen.

In der Türkei werden Kurden sehr häufig wegen ihrer gesellschaftspolitischen Haltung und wegen ganz normaler demokratischer Aktivitäten vor Gericht gestellt. Bei diesen Strafverfahren wird das enorme Unrecht, die Verfolgung und das erlittene Leid des kurdischen Volkes ausgeklammert und die Verfahren werden auf der Grundlage des ,Kampfes gegen den Terror' geführt. Es hat mich sehr überrascht, hier in Deutschland mit einem ähnlichen Verfahren konfrontiert zu werden. Angesichts dieser Situation halte ich es für notwendig, die Realität der Verleugnung, der ich seit 40 Jahren ausgesetzt bin, darzustellen und zu erklären.

Ich bin ein Mensch, der seit über vierzig Jahren Opfer von Staatsterror ist. Die Tatsache, dass ich in einem Land, an dessen demokratische Werte ich glaube und in dem ich politisches Asyl gesucht habe, mit einer so schwerwiegenden Anklage konfrontiert bin, zeigt die Tragödie, die das kurdische Volk, dem ich angehöre, seit über hundert Jahren durchlebt. Um mich gegen die mir gemachten Anschuldigungen zu verteidigen, fühle ich mich verpflichtet, einen kurzen Überblick über meine über vierzigjährige Biographie zu geben. Diese steht in direktem Zusammenhang mit der seit hundert Jahren andauernden kurdischen Frage und insbesondere mit der Realität der Verleugnung und Vernichtung der Kurdinnen und Kurden.“

Ursächlich für das Verfahren ist die Unterdrückung des kurdischen Volkes“

Die Anklageschrift beschreibe im Detail die Struktur, den Zweck und einige Aktionen der PKK, deren Mitglied er angeblich sei, führte Çakas weiter aus: „Die Anklageschrift verkennt jedoch die Teilung und Zerstückelung Kurdistans und die totale Verleugnung und Vernichtung des kurdischen Volkes als Nation, die zur Entstehung der PKK geführt haben. Der kulturelle Genozid, der seit hundert Jahren in Kurdistan am kurdischen Volk verübt wird, wird nicht gesehen. Ohne die Abfolge der in diesem Zusammenhang verfolgten Politik zu sehen und zu erklären, kann man weder verstehen, was mir angetan wurde, noch die Ungerechtigkeit erkennen, dass ich angeklagt werde. Natürlich kenne ich nicht alle Gesetze in Deutschland. Aber ich glaube, dass es in Deutschland neben den Gesetzen, auf die sich die Anklageschrift stützt und die mich des Terrorismus beschuldigen, Gesetze gibt, die meine Identität und meine Integrität schützen, d.h. meine Rechte gegen die unmenschlichen Praktiken und die Unterdrückung, denen ich als Angehöriger des kurdischen Volkes ausgesetzt bin. Die Tatsache, dass das kurdische Volk verleugnet wird, ist im Grunde die Ursache für dieses Strafverfahren.“

Auswirkungen des Vertrags von Lausanne

Mehmet Çakas beschrieb die Auswirkungen des Vertrags von Lausanne vom 24. Juli 1923, mit dem die Vierteilung Kurdistans beschlossen wurde, und sagte: „Das kurdische Volk, eines der ältesten Völker Mesopotamiens, ist heute mit 50 Millionen Angehörigen das bevölkerungsreichste Volk der Welt ohne Staat, d.h. ohne Selbstbestimmung. Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts lebten die Kurden ihre eigene Sprache und ihre kulturellen Werte als feudal-autonomes Volk unter der Herrschaft des Osmanischen und des Iranischen Reiches; zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden sie als eine der grundlegenden, tief verwurzelten Nationen der Region des Nahen Ostens anerkannt. Der 1920 zwischen Großbritannien, Frankreich und dem Osmanischen Reich unterzeichnete Vertrag von Sèvres, der eine Neuordnung der Region vorsah, räumte den Kurden unter bestimmten Bedingungen die Möglichkeit ein, einen unabhängigen Staat zu gründen. Im Jahr 1920 wurde die kurdische Nation als eine grundlegende Tatsache und als eine Kraft in der Region gesehen. Das Recht auf Gründung eines unabhängigen Staates wurde in internationalen Verträgen anerkannt. Jedoch wurde es 1923, nur drei Jahre später, missachtet, was den Beginn einer 100-jährigen Tragödie für die Kurden darstellt. Die Tatsache, dass zwischen dem Vertrag von Sèvres und dem Vertrag von Lausanne ein so großer Unterschied besteht, hängt damit zusammen, dass zu jener Zeit wie auch heute die Frage der Nationalstaaten und des Selbstbestimmungsrechts der Völker von den jeweiligen geostrategischen Interessen der imperialistischen Staaten abhing.“

Das Selbstbestimmungsrecht der Völker

„Dieses Prinzip, das seine geistigen Wurzeln im Zeitalter der Aufklärung hat, sieht im Wesentlichen vor, dass sich der Wille des Volkes in der Regierung widerspiegelt. Dieses Prinzip lehnt die traditionelle dynastische Autorität von oben ab und stützt sich stattdessen auf die Zustimmung der Regierten sowie auf die Interessen und Freiheiten des Einzelnen. Mit diesen Ideen, die von den Philosophen der Aufklärung, insbesondere von J. J. Rousseau, vertreten wurden, spiegelte sich der Wille des Volkes zunehmend in den Regierungsformen wider. Die Französische Revolution im 18. Jahrhundert, der Amerikanische Unabhängigkeitskrieg, die Vereinigung der Fürstentümer in Italien und Deutschland zu einem Nationalstaat im 19. Jahrhundert und schließlich die Auflösung des Osmanischen Reiches, des Russischen Reiches und des Habsburgerreiches und die darauffolgende bolschewistische Revolution erhöhten die Bedeutung und den Stellenwert dieses Prinzips. Mit dem Versailler Vertrag nach dem Ersten Weltkrieg wurde dieses Prinzip völkerrechtlich verankert.“

Wer entscheidet darüber?

„Die Hauptfrage, die für unser Thema relevant ist, lautet: Wer ist eine Nation, wo liegen ihre Grenzen? Wer entscheidet darüber? Natürlich diejenigen, die die Macht haben. In den letzten zwei Jahrhunderten, vor allem zu Beginn des 20. Jahrhunderts, wurde die überwältigende Mehrheit der Nationalstaaten auf dem Reißbrett entworfen und von westlichen imperialistischen Staaten gegründet bzw. wurde deren Gründung zugelassen. Bei der Gründung all dieser Staaten, bei der Festlegung ihrer Grenzen und Inhalte wurden die wirtschaftspolitischen Interessen der Hegemonialstaaten, die diese Staaten gegründet haben, zugrunde gelegt und nicht die soziologischen, kulturellen und finanziellen Strukturen dieser Nationen. Es wurden nicht nur künstliche Staaten gegründet, sondern sogar künstliche Nationen von und durch diese Staaten entworfen, fabriziert und konstruiert. Die Aufteilung des arabischen Volkes in mehr als 20 Staaten und die Konstruktion verschiedener Nationen ist das interessanteste Werk dieses westlichen social engineering.“

Strategie des Teilens und Herrschens

„Der Vertrag von Sèvres (1920) war der erste Versuch in der Region, Nationalstaaten zu schaffen, er war ein politisches Produkt der berühmten Strategie des Teilens und Herrschens. Dieser Vertrag, der Anatolien, Kurdistan und Mesopotamien in Dutzende von Kleinstaaten aufteilte, gefiel den türkischen Nationalisten unter der Führung von Mustafa Kemal nicht. So wie Tayyip Erdoğan heute unter Ausnutzung des Interessenwiderspruchs zwischen dem Westen und Russland jeden seiner Wünsche durchsetzt, so nutzten die Kemalisten, die die Architekten dieser Vermittlungspolitik waren, diese Umstände, um den Vertrag von Sèvres zu annullieren und sich wieder an den Verhandlungstisch setzen zu können. Die Kurden, die 1920 als eigenes Volk und reif für die Gründung eines Nationalstaates angesehen wurden, wurden nur drei Jahre später in Lausanne übergangen. Der politische Ausdruck des Verständnisses von der Trennung der Gesellschaften war dieser: Nationalstaaten mussten so funktionieren, wie sie erdacht waren, sie sollten sich konsolidieren und dauerhaft werden. Dazu mussten die Hindernisse, die sich der Formierung der Nationalstaaten in den Weg stellten, systematisch und planvoll überwunden werden. Dies war ein ernstes Problem, insbesondere im Nahen Osten, der einen multikulturellen, multireligiösen und tief verwurzelten kulturellen und historischen Hintergrund hat. Aus diesem Grund wurden drei grundlegende Praktiken als unverzichtbar für den Aufbau und die Dauerhaftigkeit von Nationalstaaten festgelegt. Wenn eine dieser Praktiken versagte, sollte je nach Situation die andere zum Einsatz kommen. Dieses von Curzon-Wilson vorgesehenes Projekt war nur dann umzusetzen, wenn folgende Unterdrückungsmaßnahmen angewandt werden: Bevölkerungsaustausch und Zwangsmigration; wo danach noch multikulturelle Gesellschaften verblieben erzwungene Assimilierung und wo diese Assimilierung nicht funktionierte oder verweigert wurde Massenmord und Genozid.“

Vernichtungsstrategie des türkischen Staates: Leugnung und Vernichtung

„In allen Teilen Kurdistans wurden im Geiste von Lausanne strikte Assimilation, Mord, Vertreibung und alle Arten von Einschüchterung angewandt. Zusätzlich hat in Nordkurdistan, wo ich mich befand, der türkische Staat eine umfassende, geplante und systematische Strategie der Verleugnung umgesetzt. Der Rassismus, den der türkische Staat gegen das kurdische Volk praktiziert, unterscheidet sich sehr von dem bekannten Rassismus, der Diskriminierung, Verunglimpfung, Verachtung, der Behandlung als zweiter oder sogar dritter Klasse. Einschränkung der Grundrechte und -freiheiten sind bekannte Praktiken. Aber der Rassismus, den der türkische Staat praktiziert, ist viel tiefer und erniedrigender. Dieser Rassismus, den wir unter dem Begriff der Verleugnung zusammenfassen, negiert die Kurden vollständig. Es gibt keine Kurden. Es gibt keine kurdische Sprache, keine Geschichte, keine kurdischen Führer, keine Spiritualität, keine Gefühle der Kurden. In Verbindung mit den Praktiken der Verleugnung und Vernichtung, den Hauptprinzipien, auf denen diese Art von Rassismus beruht, hat sich – wie es viele Akademiker und Intellektuelle beschrieben haben – ein ,soziokultureller Genozid im Laufe der Zeit' entwickelt. Wenn alle grundlegenden Elemente der Identität eines Volkes, die die Menschlichkeit seiner Mitglieder zum Ausdruck bringen und es zu einem Volk machen, offiziell negiert und gewaltsam verhindert werden, bleibt nur der Widerstand im Namen der Menschlichkeit.“

Der Kampf der PKK gegen den IS

Im weiteren Verlauf schilderte Mehmet Çakas den Kampf der PKK-Guerilla gegen den IS und sagte: „Der IS hat der Welt nicht nur gezeigt, was echter Terrorismus ist, sondern auch, wer die Verteidiger der Völker sind.“ Er ging außerdem auf die Zerstörung ganzer Städte in Nordkurdistan durch den türkischen Staat in den Jahren 2015/2016, die Massenverhaftungen kurdischer Politiker:innen in der Türkei und die völkerrechtswidrige Besatzung von Efrîn im Frühjahr 2018 ein, mit der die Region in Rojava/Nordsyrien „zu einem Hort des dschihadistischen Terrors“ gemacht wurde.

„In den Jahren, in denen ich wieder in Deutschland gelebt habe, habe ich gesehen, wie sich das gesamte kurdische Volk, unabhängig von ideologischen oder politischen Zielen, unter großen Opfern gegen diese mörderischen dschihadistischen Angriffe gewehrt hat. Weil aber meine politischen Aktivitäten in dieser Zeit den Kernpunkt der Anklageschrift bilden und ich mich dafür entscheiden habe, keine Aussage zu den konkreten Anklagevorwürfen zu machen, möchte ich auch an dieser Stelle zu meinem Leben in dieser Zeit nichts weiter sagen“, teilte Mehmet Çakas in seiner ersten Prozesserklärung mit.

Solidarische Prozessbegleitung


Die Initiativen Women Defend Rojava und Defend Kurdistan beobachten den Prozess und haben zur Solidarität mit Mehmet Çakas aufgerufen: „Im Zuge der Realität von Krieg, Unterdrückung, Zerstörung und gezielten Tötungen in den verschiedenen Teilen Kurdistans ist ein Engagement für die Veränderung der Verhältnisse unerlässlich. Genau dieses wird vor dem deutschen Gericht zu kriminalisieren versucht, anstatt die völkerrechtswidrigen Kriege, Angriffe auf Zivilist:innen und Journalist:innen oder menschenrechtswidrige Inhaftierungen und Morde zu thematisieren.

Wir können sehen, dass parallel zum intensiver werdenden Krieg in Kurdistan auch die Repression staatlicher Institutionen in der BRD gegenüber politisch aktiven Kurd:innen und solidarischen Menschen und Gruppen in den letzten Jahren immer mehr ausarten. Mit Hilfe des Terrorkonstruktes, welches mit dem PKK-Verbot begründet wird, werden die Grundrechte der kurdischen Community in Deutschland massiv eingeschränkt und politische Aktivitäten im Sinne der Versammlungs- und Organisationsfreiheit kriminalisiert."

Postadresse

Mehmet Çakas spricht Kirmanckî, Kurmancî, Türkisch und ein wenig Deutsch. Seine Postadresse ist Schulenburger Landstraße 145, 30165 Hannover.