Prozess gegen Mirza B.: Anhörung der Sachverständigen

Im PKK-Prozess gegen den kurdischen Aktivisten Mirza B. vor dem OLG München ist die Historikerin Dr. Ellinor Morack als Sachverständige zur Lage der Kurdinnen und Kurden in der Türkei angehört worden.

Der zweite Verhandlungstag im §129a/b-Verfahren am Oberlandesgericht München gegen Mirza B. begann mit seiner Frage an das Gericht: „Wie aufrichtig ist die zu Prozessbeginn getroffene Aussage, der Senat beschäftige sich mit dem Unrecht, das Kurd:innen in der Türkei widerfährt? Oder handelte es sich lediglich um eine diplomatische Floskel?“ Der Vorsitzende Richter versicherte, alles, was er sage, sei „aufrichtig“. Deshalb stelle er die Beschäftigung mit der „kurdischen Frage“ auch an den Anfang des Verfahrens.

Danach kam – wie vorgesehen – die Sachverständige Dr. Ellinor Morack zu Wort. Sie ist Akademische Rätin am Lehrstuhl für Turkologie an der Universität Bamberg. Als Historikerin hat sie sich mit der osmanischen und türkischen Geschichte beschäftigt. Eine ausgewiesene Kennerin der Arbeitspartei Kurdistans (PKK) sei sie jedoch nicht, betonte sie.

Um den Hintergrund des kurdisch-türkischen Konflikts zu beleuchten, zeichnete Dr. Morack zunächst grob die Entwicklung der sozio-politischen und ökonomischen Lage in Kurdistan und der Türkei der letzten 100 Jahre nach. Explizit ging sie auf das Dersim-Massaker ein und erwähnte dabei auch den Einsatz von Giftgas aus Deutschland. Immer wieder thematisiert wurden die rassistischen Komponenten des türkischen Nationalismus.

Zu den Anfängen der Arbeiterpartei Kurdistans erwähnte sie deren Angriffe auf das Feudalsystem und attestierte der PKK das Erringen großer Sympathien in der Landbevölkerung. Danach beschrieb sie die eskalierende Gewalt in den 80er und 90er Jahren und das vom Staat installierte System der Dorfschützer. Als Zäsur bezeichnete Morack die Verhaftung Abdullah Öcalans. Sie betonte den einseitigen Aufruf zur Waffenruhe seitens der PKK und deren Abkehr vom Ziel der Errichtung eines kurdischen Nationalstaats.

In den folgenden Ausführungen befasste sich Morack mit dem Erstarken der AKP und der Gründung von kurdisch dominierten Parteien und deren Verboten. Der Beginn des Friedensprozesses sei spätestens nach Ausrufung eines Autonomiestatus in einigen kurdischen Städten und der Entstehung einer kurdischen Autonomieregion in Nordostsyrien seitens des türkischen Staates beendet worden. Nach dem gescheiterten Putsch von 2016 habe erneut eine Eskalation mit Ausgangssperren und Massakern in Cizre und Nusaybin (ku. Cizîr und Nisêbîn) begonnen.

Am Ende ihres Vortrags kam Morack mit dem Verweis auf den zu lebenslanger Haft verurteilten Kulturförderer Osman Kavala zu dem Schluss, heute seien in der Türkei nicht nur kurdische Gruppen, sondern auch Liberale von massiver Gewalt betroffen. Sie erwähnte die großen KCK-Prozesse, und im Hinblick auf Rechtsstaatlichkeit in der Türkei fügte sie an, man könne nicht mehr von unabhängiger Justiz sprechen.

Im Anschluss stellten sowohl die Richter als auch die Verteidigung der Sachverständigen noch eine Reihe von ergänzenden Fragen, die für das Verständnis der Entwicklungen wichtig erschienen. Rechtsanwalt Yunus Ziyal zum Beispiel interessierte die Zusammenarbeit von Staat und organisiertem Verbrechen (Stichpunkt Susurluk-Komplex) und die Art der Zusammenarbeit staatlicher Akteure mit JITEM, Hizbullah und IS.

Nachdem die Sachverständige entlassen wurde, merkte der Vorsitzende in Richtung der Verteidigung und des Angeklagten an, er habe die Hoffnung, dass aus der umfassenden Gewährung des Fragerechts der Verteidigung deutlich werde, dass das Gericht sich tatsächlich – wie eingangs beteuert – mit dem Schicksal des kurdischen Volkes beschäftige.

In der Tat haben die Staatsschutzsenate im Lauf der letzten Jahre begonnen, die Repression gegen Kurd:innen nicht auszublenden, wie dies früher der Fall war. Das hindert sie dennoch nicht, die Anklagen zuzulassen und hohe Haftstrafen gegen ausschließlich politisch tätige Menschen aus der kurdischen Bewegung zu verhängen.

Und auch die bisherige Rechtsprechung der Münchener Senate deutet nicht daraufhin, dass sich die Kenntnisnahme des Unrechts, gegen das sich der Kampf der Kurd:innen richtet, auch de facto auf die Ergebnisse der politischen Verfahren auswirkt.

Nach wie vor befindet Mirza B. sich – seit nunmehr über einem Jahr – in Untersuchungshaft. Er verfolgte sehr aufmerksam den Ausführungen der Sachverständigen. Viele der geschilderten Ereignisse fanden statt, als der heute 36-Jährige noch ein Kind war. Wie unwirklich und emotional belastend muss es sein, in einem deutschen Gerichtssaal an die ungesühnten Verbrechen des türkischen Staates am kurdischen Volk erinnert zu werden? Wie viel Selbstbeherrschung mag es kosten, sich jetzt auf einer Anklagebank wiederzufinden und Ruhe zu bewahren, weil nicht die Liste der staatlichen Verbrechen Gegenstand der Anklage ist, sondern der Widerstand dagegen?

Der Vorsitzende Richter kündigte an, an den nächsten Verhandlungstagen Strukturen und Ziele der PKK noch ausführlicher in den Blick zu fassen. Danach soll es dann um den angeblichen Nachweis der Handlungen des Angeklagten gehen. Dabei steht zu befürchten, dass der Münchner Senat versucht, die ‚politischen Inhalte‘ zu Beginn abzuhandeln, um dann den für den Rest des Verfahrens seine Ruhe vor jenen Tatsachen zu haben, aus denen die offensichtliche Illegitimität dieser Prozesse spricht.

Der nächste Verhandlungstag ist am Dienstag, 31. Mai, 9.30 Uhr, der angekündigte Termin am 3. Juni entfällt. Weitere Verhandlungstermine: 21.6., 24.6., 28.6., 1.7., 5.7., 8.7., 12.7., 15.7., jeweils um 9.30 Uhr am Oberlandesgericht München, Nymphenburger Straße 16, 80335 München, Sitzungssaal B-275.


Foto: Kundgebung gegen politische Repression in Nürnberg im Mai 2021