Die Organisator:innen waren sich einig: „Es sind außenpolitische Interessen und Rücksichtnahmen auf den NATO-Partner Türkei, die Kurd:innen der politisch motivierten Verfolgung aussetzt und sie – wie auch in der Türkei – als ‚Terroristen’ stigmatisiert. Sie zahlen den Preis für die von wirtschaftlichen und geostrategischen Interessen geleitete Politik, die nur dann harsche Worte gegen Menschenrechtsverletzungen, inhaftierte Oppositionelle und autoritäre Strukturen findet, wenn es um Staaten wie China, Russland, Belarus etc. geht.”
An der Kundgebung in der Innenstadt Nürnbergs nahmen viele kurdische, türkische und internationalistische Aktivist:innen teil. Passant:innen, die nach pandemiebedingten Lockerungen wieder zahlreicher unterwegs waren, erfuhren in Redebeiträgen, was in ihrer Stadt Anfang Mai passierte. Die örtliche Presse hielt es nicht für nötig, darüber zu berichten.
Im Redebeitrag der Linken Liste wurde auf die jüngsten Razzien und Verhaftungen eingegangen und daran erinnert, dass schon früher in Nürnberg die Ärztin Dr. Banu Büyükavci und ihr Lebensgefährte Dr. Sinan Aydin sowie die junge Kurdin Leyla ins Visier der staatlichen Repression gerieten.
Analyse vom Medya Volkshaus über antikurdische Repression
Der Redebeitrag im Namen des Medya Volkshauses stellte die staatlichen Angriffe in Heilbronn, Esslingen und Nürnberg in einen größeren Zusammenhang. Der Text wurde ANF zur Verfügung gestellt und wir veröffentlichen ihn hier:
Spätestens seit den 90er Jahren, als immer mehr Kurd:innen zur Flucht gezwungen waren und sich im Exil organisierten, begleitet das Stigma des „Terrorismus“ den kurdischen antifaschistischen Widerstand. Immer wieder klopft der türkische Staat an Europas Türen und fordert die Übernahme seiner Staatsräson, wonach Kurden als Terroristen gelten, wenn sie sich zu ihrer Identität bekennen.
Für die europäischen Staaten war es niemals ein Problem, die Kurden auf dem Altar geo-strategischer und ökonomischer Interessen zu opfern. Zudem waren die Ziele der sich auch in Europa formierenden Freiheitsbewegung schon immer suspekt. Eine antikapitalistische Grundhaltung, das Eintreten für radikale Demokratie, für Frauenrechte und Ökologie ist nicht kompatibel mit der neoliberalen Fratze einer kapitalistischen Moderne.
So wurde die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), die die Freiheitsbewegung anführt, in Deutschland 1993 verboten und geriet schließlich auf die europäische Terrorliste. Dabei tat sich besonders der deutsche Staat hervor mit seinem Instrument der „Verfolgungsermächtigung“. Die besagt, dass alle Aktivitäten der PKK strafrechtlich ohne weitere juristische Überprüfung oder Begründung nach dem „Terror“-Paragraphen 129 verfolgt werden können. Das ist praktisch, lassen sich so doch ganz leicht Anklageschriften im Copy- und Paste-Verfahren erstellen.
Zehntausende von Strafverfahren fanden bisher statt. Grundrechte der hier lebenden Kurdinnen und Kurden werden außer Kraft gesetzt, ihre Demonstrationen und Symbole verboten, Literatur zensiert und beschlagnahmt. Weitere Keulen aus dem Aufenthalts- und Vereinsrecht kommen dazu: Verweigerung der Einbürgerung, Aberkennung von Aufenthaltstiteln, schikanöse Meldeauflagen, Berufsverbote. Die umfangreichste Repressionsmaschine gegen die größte ausländische politische Gruppierung ist gut geölt.
Dies alles ist bekannt. Das geht seit Jahrzehnten so. Je nach Stand der außenpolitischen Interessenlage mal mehr, mal weniger heftig.
Derzeit ist Süddeutschland im Fokus. Nach den Verhaftungen von zwei Aktivisten aus München und Augsburg im letzten Jahr traf es vor drei Wochen Mirza aus Nürnberg, Abdullah aus Heilbronn und Mazlum aus Esslingen. Vorgestern gab es noch einmal zwei Hausdurchsuchungen in Heilbronn.
Das läuft dann immer sehr martialisch ab. Der Eindruck einer unmittelbaren Gefahr für die Bundesrepublik muss schließlich gewahrt werden.
So stürmte am 7. Mai im Morgengrauen ein bewaffnetes Einsatzkommando das Nürnberger Medya Volkshaus, ein legales Kulturzentrum, bekannt z.B. durch die von der Stadt geförderten und überregional bekannten Kurdischen Kulturtage.
Da wird nicht nicht lange gefackelt: gewaltsames Aufbrechen der Außentür, Beschlagnahmung von Computern, Handys, Büromaterialien. Fotos werden von den Wänden gerissen, zurück bleibt eine Spur der Verwüstung.
Zeitgleich drang ein anderes Spezialkommando in die Privatwohnung der Vereinsvorsitzenden ein. Die gesundheitlich angeschlagene Frau erlitt einen Nervenzusammenbruch. Ein Notarzt wurde gerufen, der sie ins Krankenhaus brachte. Währenddessen stellten die Beamten ihre Wohnung auf den Kopf. Auch hier wurden Datenträger, Notizbücher, Rechnungen und Bargeld mitgenommen. Ihr zufällig in der Wohnung anwesende Gast Mirza B. wurde verhaftet. Ein auf seinen Namen ausgestellter Haftbefehl bezichtigte ihn der „Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung im Ausland“. Mittlerweile befindet er sich in Untersuchungshaft in der JVA Augsburg-Gablingen. Soweit die nackten Fakten, was am 7. Mai in Nürnberg geschah.
Schaut man sich genauer an, was Mirza und den beiden ein paar Tage später in Heilbronn und Esslingen verhafteten Aktivisten vorgeworfen wird, reibt man sich die Augen. Aufgelistet werden zum Beispiel die Teilnahme an Kundgebungen, die alle von den Ordnungsämtern genehmigt waren und keinerlei Anlass zur Beanstandung gaben. Oder das Organisieren von Spenden für notleidende Familien oder für Beatmungsgeräte für Rojava. Akribisch werden Kontakte und Besuche aufgeführt. Das Ausmaß und der Aufwand der vorangegangenen Überwachung lässt sich nur erahnen. Die Rede ist dann von Aufgaben eines „Gebietsverantwortlichen der PKK“, die sich entpuppen als Konglomerat von legaler politischer Betätigung und Besuchen bei Mitgliedern der kurdischen Community – ein ziemlich normales soziales Verhalten.
Dies alles soll die innere Sicherheit gefährden? Man fragt sich, ob die Staatsanwälte wirklich daran glauben. Mit obsessiver Hingabe werden „Fakten“ gesammelt, um die „Unterstützung einer terroristischen Organisation“ nachzuweisen, wie es dann offiziell heißt.
Die Beurteilung der PKK als „Terrororganisation“ teilen keineswegs alle Staaten. China, Russland, Indien, Ägypten oder die Vereinten Nationen folgen dieser Einschätzung nicht. Auch der Europäische Gerichtshof in Brüssel kam 2020 endgültig zu seinem Urteil: Die PKK ist keine terroristische Organisation, sondern gilt als eine Partei in einem innerstaatlichen bewaffneten Konflikt.
Politik und Medien sorgen sich derzeit sehr um Oppositionelle in Russland oder Belarus und sehen über deren Hang zu Rassismus und wenig Berührungsängsten mit Faschisten gerne hinweg. Zur Opposition gegen die türkische Diktatur herrscht dagegen Schweigen. Der Hinauswurf gewählter Abgeordneter aus dem Parlament, die zehntausenden politischen Gefangenen, die 22-jährige Isolation des kurdischen Repräsentanten auf einer Gefängnisinsel ist kein Thema. Die größte und sich selbst verteidigende und gezwungenermaßen auch kämpfende oppositionelle Bewegung wird als „terroristisch“ diffamiert. Vergessen sind deren Siege über den IS, vergessen die Rettung der Ezid:innen vor dem Völkermord. Ignoriert werden die vielen Gesprächsangebote kurdischer Politiker:innen zum Dialog für einen Frieden.
Was soll man sagen zu einem Staat, der eine Diktatur hofiert, die Frauenrechte mit Füßen tritt und offen mit Islamisten paktiert?
Was soll man sagen zu einem Staat, der Waffen liefert an einen Bündnispartner, der nicht zurückschreckt vor Einsatz von Giftgas in völkerrechtswidrigen Kriegen?
Was soll man sagen zu einem Staat, der legitime Selbstverteidigung als „terroristisch“ brandmarkt und die kriminalisiert, die nichts anderes fordern als ein freies Leben in Würde und Selbstbestimmung?
Wir fragen uns: Wo bleibt der Aufschrei der Medien, der demokratischen Gesellschaft? Wann beendet die Bundesregierung die Zusammenarbeit mit den Kriegsverbrechern in Ankara? Wann zwingt man die Politiker:innen in Berlin, sich auf die Seite derer zu stellen, die für Demokratie kämpfen? Wann fällt das Verbot der PKK?
Unterschriften an den UN-Generalsekretär verschickt
Nach diesem Redebeitrag wurden zum Abschluss der Kundgebung noch im Rahmen der europaweiten Unterschriftenkampagne für die Freiheit Öcalans in Nürnberg gesammelte Unterschriften an den UN-Generalsekretär António Guterres verschickt, um die Vereinten Nationen zum Handeln für die Freiheit von Abdullah Öcalan und einen gerechten Frieden in der Türkei aufzufordern.