Am 12. November 2020 klagt Sezgin Dağ über Schmerzen in der Brust und ein Taubheitsgefühl in den Armen. Der 41-jährige Kurde wendet sich an die Betreuung des Bundesasylzentrums (BAZ) Kappelen-Lyss im Kanton Bern, wo er seit einigen Wochen lebt. Um 17.51 Uhr kommt er in das Krankenhaus Spital Aarberg. Die behandelnde Ärztin vermerkt in ihrem Bericht: „Die Anamneseerhebung ist stark erschwert, der Patient spricht nur Türkisch.“ Einen Dolmetscher ruft sie aber nicht hinzu. Stattdessen übersetzt eine Freundin des Patienten, die selbst Geflüchtete ist, am Telefon. Das Fazit der Ärztin nach den Untersuchungen lautet: Keine Anhaltspunkte für einen Herzinfarkt oder ein Herzversagen. Sie verschreibt Schmerz- und Beruhigungsmittel und entlässt ihn gegen 21 Uhr. Dabei ist sein Herz seit einem Anschlag, den er schwerverletzt überlebte, vorbelastet. 2019 legt man ihm in der Türkei nach einem Infarkt einen Stent. Im September 2020 wurde er in der Kardiologie des Inselspitals Bern zur Kontrolle bereits ausführlich untersucht. All das ist seiner Krankenakte zu entnehmen.
Taxi statt Ambulanz
Kaum zurück im Asylzentrum, wendet sich Sezgin Dağ um etwa 23 Uhr erneut an einen Betreuer und den Nachtwächter. Beide Männer sind weder medizinische Pflegekräfte noch des Türkischen mächtig. Durch seine Gesten hätten sie verstanden, dass er Schmerzen im Bauch hatte, werden die beiden später in einer polizeilichen Vernehmung aussagen. Der Wachmann sagt: „Es war schwierig, zu erkennen, wie groß seine Schmerzen waren.“ Dennoch war klar: Sezgin Dağ muss ins Krankenhaus. Eine Ambulanz rufen sie trotzdem nicht, stattdessen setzten sie ihn gegen 23.10 Uhr allein in ein Taxi. Als der Wagen nur zehn Minuten später im Krankenhaus eintrifft, ist Dağ schon ohne Puls. Zwar versucht man noch, ihn zu reanimieren, doch ohne Erfolg. Um 00.20 Uhr wird Sezgin Dağ für tot erklärt. Todesursache: unklar.
Sezgin Dağ war in der Türkei ein aktives Mitglied der ESP (Sozialistische Partei der Unterdrückten). Als politischer Flüchtling hatte er im August 2020 ein Asylgesuch in der Schweiz gestellt, nachdem er vom türkischen Regime wiederholt verfolgt worden war. Er gehörte zu den Überlebenden des IS-Selbstmordanschlags am 20. Juli 2015 in der nordkurdischen Stadt Pirsûs (tr. Suruç), bei dem 33 hauptsächlich junge Menschen ums Leben kamen und 104 weitere teils schwer verletzt wurden. Dieser Terroranschlag richtete sich gegen eine Versammlung des ESP-Jugendverbands und kurdischer Organisationen, die von Pirsûs aus über die nur wenige Kilometer entfernte syrische Grenze nach Kobanê/Rojava ziehen wollten, um dort beim Wiederaufbau zu helfen und Hilfsgüter zu bringen. Bei dem Attentat hatten sich in den Körper von Sezgin Dağ mehrere Granatsplitter gebohrt. Bei seinem Asylgesuch klärte Sezgin Dağ die zuständigen Behörden in der Achweiz nicht nur über die gegen ihn in der Türkei verhängten Haftstrafen auf, sondern auch über seinen kritischen Gesundheitszustand; dass er nicht nur mit den Splitterstücken in seinem Körper zu kämpfen hatte, sondern auch unter einer koronaren Herzkrankheit litt. In der Türkei hatte er einen Myokardinfarkt erlitten, nach der Genesung wurde ihm ein Stent gesetzt. Im September 2020 wurde er in der Kardiologie des Inselspitals Bern ausführlich untersucht. All das ist seiner Krankenakte zu entnehmen. © Öner Polat
Vorwurf: Staatsanwaltschaft kommt Untersuchungspflicht nicht nach
„Dies ist nun drei Jahre her, aber noch immer musste sich niemand für den Tod von Sezgin Dağ verantworten.“ Ali Orak von der Föderation der Immigrierten Arbeiter in der Schweiz (IGIF), für die sich auch Dağ seit seiner Flucht aus der Türkei engagierte, sprach heute im BAZ Kappelen-Lyss deutliche Worte an die Justiz. Er kritisierte, dass die zuständige Staatsanwaltschaft kein wirkliches Interesse an einer ernsthaften Untersuchung des Falls zeige und eine Beschwerde der Rechtsvertretung von Dağs Angehörigen gegen die Einstellung des Verfahrens noch immer vor dem Schweizer Obergericht anhängig sei. Sezgin Dağs Bruder Murtaza berichtete davon, dass die Staatsanwaltschaft insgesamt 27 Beweisanträge der Verteidigung abgewiesen habe mit der Begründung, sie seien „nicht relevant zur Klärung des Sachverhalts“. Er warf der Behörde vor, ihrer Untersuchungspflicht nicht nachzukommen. Außerdem beklagte er sich darüber, dass sich das Staatssekretariat für Migration (SEM) und die schweizerische Flüchtlingsbetreuung ORS außer sich gegenseitig die Verantwortung für den Tod von Sezgin Dağ zuzuschieben nichts tun würden, um zumindest Ansatzweise für Gerechtigkeit zu sorgen.
Migrantische NGOs: Kampf um Gerechtigkeit
An der Gedenkveranstaltung für Sezgin Dağ beteiligten sich auch Vertreterinnen und Aktivisten von NGOs wie dem Institute for Development and Human Rights (IDDH), dem kurdisch-türkischen Kulturverein KuTüsch, dem Verband KOMAW, in dem sich Angehörige von Gefallenen organisieren, und der Partei des sozialistischen Wiederaufbaus (SYKP). Sie alle bekräftigten den „Widerstand“ für Sezgin Dağ so lange fortzusetzen, bis sein Tod restlos aufgeklärt wird, mögliche Verantwortliche strafrechtlich verfolgt werden und Gerechtigkeit geschieht.