Wer ist schuld am Tod von Sezgin Dağ?

Am 13. November starb Sezgin Dağ, ein Überlebender des IS-Anschlags von Pirsûs, unter ungeklärten Umständen in der Schweiz. Angehörige und Weggefährten fordern eine umfassende Aufklärung und Schritte, um Verantwortliche zur Rechenschaft zu ziehen.

Am 13. November starb der kurdische Aktivist Sezgin Dağ im Alter von 41 Jahren unter bis heute ungeklärten Umständen im schweizerischen Lyss, wo er als Geflüchteter im Asylzentrum an der Grenzstraße 14 lebte. Angehörige und Weggefährten sind der Meinung, dass sein Tod eine Verletzung des Rechts auf Leben darstellt. Sie fordern, dass die Verantwortlichen vor dem Gesetz zur Rechenschaft gezogen werden. 

Wer war Sezgin Dağ? 

Sezgin Dağ war in der Türkei ein aktives Mitglied der ESP (Sozialistische Partei der Unterdrückten), die sich 2014 der als Dachpartei mehrerer Kleinparteien fungierenden HDP (Demokratische Partei der Völker) anschloss. Als politischer Flüchtling hatte er ein Asylgesuch in der Schweiz gestellt, wo er sich bei der IGIF (Föderation der Immigrierten Arbeiter in der Schweiz) engagierte. Sezgin Dağ war Überlebender eines Selbstmordanschlags des IS am 20. Juli 2015 in der nordkurdischen Grenzstadt Pirsûs (tr. Suruç). 33 hauptsächlich junge Menschen kamen dabei ums Leben. Die Aktivistinnen und Aktivisten der Föderation Sozialistischer Jugendvereine (SGDF) hatten sich im Kulturzentrum Amara versammelt und wollten vor ihrer Abreise nach Kobanê eine Pressekonferenz abhalten. Die geplante Fahrt nach Rojava sollte ein Akt der Solidarität sein. Die Jugendlichen wollten Kinderspielzeug und humanitäre Hilfsgüter in die vom IS zerstörte Stadt bringen. 104 Menschen wurden bei dem Anschlag verletzt, auch Sezgin Dağ. In seinen Körper hatten sich Granatsplitter gebohrt.

Wie ging es Sezgin Dağ nach dem Anschlag?

Nach Angaben der Initiative, die sich für Gerechtigkeit für Sezgin Dağ einsetzt, wurde der 1979 geborene Kurde nach dem IS-Anschlag von Pirsûs jahrelang medizinisch betreut und trug bis zu seinem Tode die Splitterstücke des Bombenangriffs in seinem Körper. In einer am Montag im Rahmen einer Kundgebung in Bern verlesenen Stellungnahme heißt es außerdem: „Beim Asylgesuch in der Schweiz berichtete er den zuständigen Behörden nicht nur die über ihn zur Vollstreckung ausgesetzten politischen Verurteilungen, sondern auch über seinen kritischen Gesundheitszustand. Er hatte nicht nur mit den Splitterstücken in seinem Körper zu kämpfen, sondern litt auch unter einer koronaren Herzkrankheit. In der Türkei hatte Sezgin einen Myokardinfarkt erlitten, nach der Genesung wurde ihm ein Stent gesetzt. Er bat die Behörden in der Schweiz um eine angemessene Behandlung für seinen kritischen Gesundheitszustand. Er bat um das Recht auf Leben und Gesundheit. Wir haben ernsthafte Zweifel, ob Sezgin eine angemessene medizinische Versorgung für seinen sensiblen Gesundheitszustand erhalten hat.“

Warum sprechen wir von einer Verletzung des Rechts auf Leben?

Laut der Initiative für Sezgin Dağ gibt es offensichtliche Verstöße und Nachlässigkeiten, die zu seinem Tod geführt haben. Diese müssten untersucht und im Ermittlungsverfahren miteinbezogen werden. Zur Begründung heißt es: „Am 12. November 2020 begab sich Sezgin Dağ gegen 16.00 Uhr ins Spital Aarberg in der Lyss-Straße 31, das zur Insel-Gruppe gehört. Er hatte Taubheitsgefühle im Arm und am Kiefer sowie Sodbrennen, Schmerzen im Hals und im Magen. Diese Symptomatik hatte er auch beim Myokardinfarkt in der Türkei. Nach unseren Recherchen wurde in dem Spital ein Blutbild erstellt und eine Röntgenaufnahme durchgeführt. Die Diagnose des behandelnden Arztes lautete Magenverstimmung und Herzrhythmusstörungen wegen eines zuvor getrunkenen Energiegetränks. Der Arzt verschrieb ein Schmerzmittel namens Dafalgan und ein weiteres Medikament gegen Sodbrennen. Sezgin wurde mit dieser Diagnose und den Medikamenten ins Asylzentrum zurückgeschickt. Im Verlauf des Tages verschlechterte sich sein Zustand immer mehr. Seine Freunde alarmierten den Verantwortlichen im Asylzentrum mehrfach wegen des Gesundheitszustandes von Sezgin. Gegen 22.00 Uhr wurde es sehr kritisch und lebensbedrohlich für Sezgin. Nach Zeugenaussagen hatte er Schaum vor dem Mund und weinte. Er umarmte sich selbst, schrie ‚Mein Herz, mein Herz!‘ und verkrampfte zeitweise. In dieser kritischen und lebensbedrohlichen Situation bestellte der verantwortliche Mitarbeiter des Asylzentrums lediglich ein Taxi anstatt eines Krankenwagens. Sezgin Dağ wurde ohne Begleitung allein mit einem Taxi ins Spital Aarberg gefahren. Laut Aussage der leitenden Kommissarin ist er am 13. November 2020 um ca. 00.20 Uhr in diesem Taxi verstorben.“

Was fordert die Initiative konkret?

Die Initiative fordert, dass die medizinische Versorgung von Sezgin Dağ ab dem Asylgesuch bis zu seinem Tode auf den Prüfstand gestellt wird; vor allem die Untersuchungsbefunde sowie die Behandlungen vom 12. November 2020 im Spital Aarberg. Insbesondere sollten die Verantwortlichen des Asylzentrums für ihr unverantwortliches Handeln – in einer solch kritischen und lebensbedrohlichen Situation ein Taxi anstatt eines Krankenwagens zu rufen – vor dem Gesetz Rechenschaft ablegen. Die Staatsanwaltschaft soll zudem ihre Ermittlungen offenlegen.

„Die mangelnden Kontrollen der staatlichen Institutionen in den privatisierten Asylzentren führen zu solchen Ereignissen. Es ist unverantwortlich und wir empfinden es als Diskriminierung gegenüber allen Flüchtlingen, dass die autorisierte Firma ORS ihre Mitarbeiter nicht anweist, in solchen lebensbedrohlichen Situationen einen Krankenwagen zu rufen. Dies zeigt uns, dass der Profit des Managements wichtiger ist als ein Menschenleben. Die überhöhten Kosten für die Ambulanzdienste sind ebenfalls ein wichtiger Mangel des schweizerischen Gesundheitssystems. Wir sind traurig, unseren Sohn, Bruder, Cousin und Freund verloren zu haben. Die Verantwortlichen sowie das System, die für den tragischen Tod eine Mitschuld tragen, müssen in Frage gestellt werden. Alle notwendigen rechtlichen Schritte müssen eingeleitet und um den Tod von weiteren Sezgins zu verhindern, müssen die notwendigen Vorkehrungen bedingungslos und dringend getroffen werden.“

Zu den Unterzeichnenden des Appells gehören:

-Familie Dağ und Kaplangil

-FEDA (Demokratische Föderation der Aleviten)

-SKB (Sozialistischer Frauenverband)

-IGIF (Föderation der Immigrierten Arbeiter*innen in der Schweiz)

-CDK-S (Kurdischer Dachverband in der Schweiz)

-SYKP (Partei des sozialistischen Wiederaufbaus)

-ROTA (Migrantische Selbstorganisation)

-IHDD (Verein für Menschenrechte und Solidarität in der Schweiz)

-ITIF (Föderation der Arbeiter*innen aus der Türkei in der Schweiz)

-DC (Revolutionäre Front)

-KKP (Kommunistische Partei Kurdistans)

-Lila-Rot-Kollektiv

-ATIK (Konförderation der Arbeiter*innen aus der Türkei in Europa)