Murat Çakır: Ein aggressiveres Deutschland ist in Sicht

Murat Çakır von der Rosa-Luxemburg-Stiftung Hessen warnt davor, dass Deutschland die Politik der AfD übernehmen, die Militarisierung und den Migrationsdruck erhöhen und gleichzeitig die Sozialausgaben kürzen wird.

Analyse nach der Wahl

Am 23. Februar fand in Deutschland die Bundestagswahl statt. Die CDU/CSU erhielten 28,52 Prozent der Stimmen. Die rechtsextreme AfD erhielt 20,80 Prozent, die SPD 16,41 Prozent, die Grünen erhielten 11,61 Prozent und Die Linke 8,77 Prozent. Das BSW sowie die FDP hingegen schafften den Einzug ins Parlament nicht. Der Vertreter der Rosa-Luxemburg-Stiftung Hessen und Wissenschaftler Murat Çakır hat die Wahlergebnisse mit ANF analysiert.

Sie haben die Bundestagswahl genau verfolgt. Wie sind die Ergebnisse der Wahlen vom 23. Februar zu interpretieren?

Die deutsche Bourgeoisie hat bekommen, was sie wollte; die rassistische und faschistische AfD hat ihre Rolle erfüllt. In diesem Sinne werden wir in der nächsten Zeit ein militarisiertes und aggressiveres Deutschland erleben. Der Druck auf Migrant:innen wird zunehmen, mehr Geld wird in die Rüstung fließen, bei den Sozialausgaben werden erhebliche Kürzungen vorgenommen, und die bestehenden sozialen Spaltungen werden sich vertiefen.

„Antifaschistische Bewegung entsteht“

Es ist jedoch auch wichtig festzustellen, dass eine antifaschistische Bewegung im Entstehen begriffen ist. Sie hat noch nicht vollständig Gestalt angenommen, aber eine wichtige Tatsache bleibt bestehen: 80 Prozent der bürgerlichen Gesellschaft lehnen die extreme Rechte und die rassistische, faschistische AfD ab. Ich denke, das ist bedeutsam und sollte nicht übersehen werden. Nichtsdestotrotz werden wir mit einer extrem rechten Migrationspolitik konfrontiert werden, insbesondere in Bezug auf Flüchtlinge.

„Die Ideologie der AfD ist bereits vorherrschend“

Deutschland steuert auf eine weitere Krise zu. Angesichts der steigenden Militärausgaben, insbesondere im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine, und des Drucks der Vereinigten Staaten wird Deutschland wahrscheinlich mehr Mittel für die NATO und die Europäische Union bereitstellen müssen. Dies wird nur möglich sein, wenn die Sozialausgaben gesenkt und die Sozialpolitik gekürzt wird. Eines ist klar: Der Druck auf die Löhne wird immens sein. Tatsächlich muss die AfD nicht einmal an die Macht kommen, um ihre Ideen umzusetzen; ihre Ideologie ist bereits vorherrschend. Das ist meine Einschätzung in Kurzform.

Wie werden sich diese Wahlergebnisse Ihrer Meinung nach auf die türkisch-deutschen Beziehungen auswirken, insbesondere im Zusammenhang mit der kurdischen Frage oder der Zukunft von Rojava?

Die Auswirkungen werden negativ sein. Wie immer braucht Deutschland einen starken NATO-Verbündeten in der Region, um seine eigenen Interessen zu schützen, und dieser Verbündete ist die Türkei. Deutschland hat eine 150-jährige Tradition der Unterstützung der regionalen Dominanz der Türkei. Ich glaube, dass auch der Druck auf Rojava zunehmen wird. In diesem Zusammenhang ist zu erwarten, dass Deutschland seine Politik der Kriminalisierung gegen kurdische Einrichtungen in Deutschland und Europa verstärken wird.

Schließlich konnte Die Linke ihren Stimmenanteil deutlich steigern. Frühere Umfragen und vergangene Wahlen hatten ein negatives Bild für die Partei gezeichnet. Wie interpretieren Sie diesen Wandel?

Die Linke hat eine Erneuerung erfahren. Mit dem Weggang von Sahra Wagenknecht ist die Partei zu einer Alternative für junge Menschen geworden, insbesondere für solche mit linksliberalen Ansichten und solche, die sich stark gegen die rassistische, faschistische AfD wenden. Gleichzeitig trug die skandalöse Abstimmung im Bundestag, bei der die CDU mit der AfD zusammenarbeitete, zur Normalisierung der AfD bei. Dies löste eine große Gegenreaktion aus, vor allem unter jungen Menschen. Auffällig ist, dass innerhalb kürzester Zeit 20.000 bis 30.000 junge Menschen der Partei Die Linke beigetreten sind.

Junge Wähler:innen

Darüber hinaus ergab eine kürzlich durchgeführte Umfrage unter den unter 25-Jährigen, dass 27 Prozent der jungen Wähler:innen der Linken zuneigen, während 24 Prozent die AfD unterstützen. Dies zeigt, dass Die Linke jetzt die führende Partei unter den Jugendlichen ist. Mit Blick auf die künftige Ausrichtung der Partei glaube ich jedoch, dass sie sich in Richtung einer linken, mit der NATO verbündeten Partei oder einfach einer Pro-NATO-Partei entwickelt.

„Die Friedensbewegung muss wachsen“

Ich hoffe, dass die Friedensbewegung ihren Druck in dieser Hinsicht erhöhen wird. Wenn die Friedensbewegung nicht wächst und mehr junge Menschen anzieht, wird es für Deutschland schwierig sein, eine starke Opposition sowohl gegen die extreme Rechte und den Militarismus als auch gegen den imperialistischen Expansionismus zu entwickeln.