Dokumente: Absetzung von Mızraklı im Vorfeld geplant

Jüngst veröffentlichte Dokumente enthüllen, dass die Absetzung von Adnan Selçuk Mızraklı, dem Bürgermeister von Amed, bereits am 1. April initiiert wurde – nur einen Tag nach den Kommunalwahlen.

Während die Auswirkungen auf die Ernennung von regierungstreuen Statthaltern in drei kurdischen HDP-Hochburgen in der Türkei weiter anhalten und die Protestwelle dagegen immer größer wird, enthüllen jüngst veröffentlichte Dokumente, dass die Absetzung von Adnan Selçuk Mızraklı, dem Bürgermeister von Amed (Diyarbakir), bereits am 1. April initiiert wurde – nur einen Tag nach den Kommunalwahlen.

Die vom Rechtsanwalt und ehemaligen Vorsitzenden der Anwaltskammer Amed, Mehmet Emin Aktar, über den Kurznachrichtendienst Twitter veröffentlichten Dokumenten geben einen Einblick über die verfassungswidrige und demokratiefeindliche Maßnahme der AKP-Regierung.

Was war geschehen?

In der Nacht auf Montag wurden die am 31. März gewählten Oberbürgermeister der Großstädte Amed und Mêrdîn (Mardin), Adnan Selçuk Mızraklı und Ahmet Türk, sowie die Oberbürgermeisterin von Wan (Van), Bedia Özgökçe Ertan, gewaltsam abgesetzt und durch Gouverneure, die als kommissarische Verwalter fungieren sollen, ersetzt. Die HDP-Politiker*innen waren mit 63, 56 und 54 Prozent der Stimmen als deutliche Sieger aus den Kommunalwahlen hervorgegangen. Nun wird ihnen nach Angaben des Innenministeriums in mehreren Ermittlungsverfahren „Mitgliedschaft in einer Terrororganisation” und „Terrorpropaganda” vorgeworfen. Konkret sollen sie ihre Posten für die Unterstützung von Aktivitäten der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) genutzt haben. Unter anderem hätten sie angeblich versucht, öffentliche Gelder an die PKK zu leiten. Zudem werden sie beschuldigt, mit dem Prinzip der Doppelspitzen, das die HDP auf allen Ebenen verfolgt, auf Anordnung der PKK eine nicht verfassungsmäßige politische Struktur eingeführt zu haben, die vom Ganzen des Landes abweicht. Desweiteren seien in den Verwaltungen Personen eingestellt worden, die zuvor wegen Terrorvorwürfen aus dem Staatsdienst entlassen wurden. Die Ermittlungsverfahren gegen die abgesetzten Bürgermeister*innen gehen teilweise auf ihre Zeit als Abgeordnete in früheren Jahren zurück.

„Erlaubnis“ für Absetzung als „Vorsichtsmaßnahme“

Laut den von Aktar veröffentlichten Dokumenten wurde das Ersuchen auf die Amtsenthebung von Mızraklı am 1. April 2019 vom Provinzgouverneur von Diyarbakir gestellt. Zu dem Zeitpunkt war das endgültige amtliche Endergebnis der Kommunalwahlen noch gar nicht ermittelt. Die Amtsenthebung wurde vom türkischen Innenminister Süleyman Soylu schließlich am 19. August abgesegnet. Vergangene Woche erklärte Soylu, ihm lägen Beweise vor, aus denen sich die rechtliche Grundlage für die Ernennung von regierungstreuen Statthaltern an Stelle der demokratisch gewählten Bürgermeister*innen ergeben. Vorgelegt wurde bisher jedoch nichts dergleichen. Der Beschluss zur Amtsenthebung bezieht sich auch auf ein Schreiben der Generaldirektion der Provinzverwaltung in Amed, verfasst am 7. August 2019. Darin bittet der Verantwortliche Ali Çelik den Innenminister um die „Erlaubnis“, Adnan Selçuk Mızraklı als „Vorsichtsmaßnahme“ zu entlassen. Mit einer Liste der Ermittlungsvorwürfe gegen den HDP-Politiker begründet Çelik seinen Standpunkt, weshalb es „angebracht“ sei, den Bürgermeister zu entmachten.

Der Tageszeitung Cumhuriyet zufolge gibt es keine Aufzeichnungen darüber, wann das Dokument vom Direktor der Provinzverwaltung verfasst und von der nächsthohen Instanz - dem stellvertretenden Innenminister Muhterem İnce - unterzeichnet wurde. Innenminister Süleyman Soylu scheint dem Antrag jedoch am Tag der Absetzung der drei Bürgermeister*innen zugestimmt zu haben.

HDP: Innenministerium macht sich zum Zentrum eines Putsches

Die HDP erklärte Anfang der Woche, dass die Begründung für die Zwangsverwaltung vollkommen erfunden sei. Die Maßnahme zeige die feindliche Haltung zum erklärten politischen Willen des kurdischen Volkes. Das Innenministerium mache sich damit zum Zentrum eines Putsches, mit dem Rechte und Freiheiten usurpiert und Entscheidungen getroffen werden, die keine Spur von Demokratie aufweisen.

In der Zeit der Zwangsverwaltung sind in den betroffenen drei Großstädten und den anderen Kommunalverwaltungen alle Ressourcen aufgebraucht worden. Die staatlichen Treuhänder haben der HDP einen Trümmerberg hinterlassen. Durch die Zwangsverwaltung sind die Rathäuser zu Zentren der Korruption und des Diebstahls gemacht worden. Die HDP glaubt, dass die Regierung und das Innenministerium verhindern wollen, dass die während der Zwangsverwaltung erfolgten Regelverstöße und die Korruption aufgedeckt werden. Die lokale militärische und zivile Bürokratie habe diese Korruption unterstützt, weil sie selbst davon profitierte.

Altbekannte Strategie

Die Zwangsverwaltung in Amed, Mêrdîn und Wan erinnert an das Vorgehen der AKP-Regierung nach dem Putschversuch im Juli 2016. Damals waren im Zuge des Ausnahmezustands 98 von 102 Bürgermeistern der HDP in kurdischen Städten abgesetzt und durch staatliche Zwangsverwalter ersetzt worden. Viele von ihnen wurden daraufhin inhaftiert und sitzen immer noch in Untersuchungshaft. Die erneute Entsendung von Zwangsverwaltern hatte Erdoğan bereits im Oktober 2018 im Kommunalwahlkampf angedroht: Jeder Kandidat, der Verbindungen zu „Terrororganisationen” aufweise, werde im Falle seiner Wahl wieder abgesetzt, hieß es damals.