Im Ahmet-Kaya-Kulturzentrum in Paris ist auch zu Silvester die Gerechtigkeitswache für die Toten des Anschlags vom 23. Dezember fortgesetzt worden. Tagsüber besuchten viele Menschen den kurdischen Verein in der Rue d’Enghien, darunter auch die Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo. Anschließend fand eine Volksversammlung statt, auf der Murat Ceylan und Nilüfer Koç die Entwicklungen bewerteten.
Murat Ceylan, Vorstandsmitglied des europaweiten Dachverbands KCDK-E, sagte, dass Evîn Goyî (Emine Kara) vor ihrer Ermordung mitten in den Vorbereitungen für die Demonstration am 7. Januar für ihre zehn Jahre zuvor ermordeten Genossinnen Sakine Cansız, Fidan Doğan und Leyla Şaylemez steckte: „Bei den Vorbereitungen für den 7. Januar kommt einem sofort Hevala Evîn in den Sinn. Sie hatte zwei Vorschläge für Parolen. Ihr erster Vorschlag war: ,Hebt das Staatsgeheimnis auf, beendet die zehnjährige Schande'. Und dann hat der französische Staat eine zweite Schande hinzugefügt. Ihren zweiten Vorschlag hatte sie auch mit der Frauenbewegung diskutiert, und sie beharrte darauf: ,Jin Jiyan Azadî wird die Dunkelheit beenden'. Jetzt liegt es an uns, die Arbeit für den 7. Januar zu vollenden. Heute wollen wir eine symbolische Aktion für Hevala Evîn machen und die gesamte Straße vor dem Kulturzentrum mit Kerzen beleuchten. Damit wollen wir zeigen, dass wir den leuchtenden Weg, den sie für uns geöffnet hat, weitergehen werden.“
Murat Ceylan: „Am 3. Januar müssen wir die kurdische Position zeigen“
Am 3. Januar findet im Pariser Vorort Villiers-le-Bel die Verabschiedung von Evîn Goyî, Mehmet Şirin Aydın (Mîr Perwer) und Abdurrahman Kızıl zur Beisetzung in Kurdistan statt. Ceylan appellierte: „Am 3. Januar werden wir unseren Gefallenen unser Wort geben. An diesem Tag muss unserer gesamtes Volk das Leben anhalten und nach Paris kommen. Gewerbetreibende sollten ihre Läden geschlossen halten, um das Massaker zu verurteilen. Wir müssen dafür sorgen, dass unser Aufruf alle unsere Freundinnen und Freunde erreicht. Ob Freund oder Feind, wir müssen allen die Haltung der Kurdinnen und Kurden zeigen. Kommandantin Evîn hat ganz Kobanê in einen Widerstandsort verwandelt. Sie hat eine wichtige Rolle bei der Niederlage des IS in Raqqa gespielt. Wir werden diese Kommandantin angemessen verabschieden.“
„Am 7. Januar für ein freies Leben in einem freien Kurdistan“
Ceylan rief auch zur Beteiligung an der Demonstration am 7. Januar in Paris auf: „Auch am 7. Januar müssen wir alle in Paris sein, um diese niederträchtigen Massaker zu verurteilen. Wir werden unsere Feinde herausfordern und deutlich machen, dass jeder Ort, an dem wir ermordet werden, ein Widerstandsort wird. Am 7. Januar werden wir unseren Feinden sagen: Als apoistische Kurdinnen und Kurden von der PKK setzen wir den Kampf unserer Gefallenen fort. Das werden wir an diesem Tag schwören. Unser Schwur gilt einem freien Leben mit Rêber Apo [Abdullah Öcalan] in einem freien Kurdistan.“
Nach Murat Ceylan redete Nilüfer Koç vom Nationalkongress Kurdistan (KNK). Sie sprach den Angehörigen der Gefallenen ihr Beileid aus und sagte, dass der türkische Staat mit dem Massaker zum Jahresende den Krieg erklärt habe. Im neuen Jahr werde jeder Tag ein Kampftag sein. Wenn in Europa kein großer Widerstand gezeigt werde, werde es zu weiteren Angriffen kommen, so Nilüfer Koç: „Denn der türkische Staat hat sich auf einen Völkermord an den Kurdinnen und Kurden eingeschworen. Das bringt er Tag und Nacht zur Sprache. Wie die Armenierinnen und Armenier will er auch die Kurden an der Wurzel auslöschen.“
Nilüfer Koç: „Der Krieg findet auch in Europa statt“
Weiter sagte Nilüfer Koç: „Der Krieg findet nicht nur in Kurdistan, in Zap, Metîna und Avaşîn statt. Faschismus gibt es nicht nur in Bakur, Besatzungsangriffe nicht nur in Başûr und Rojava. Der Krieg wird auf verschiedenen Ebenen und mit verschiedenen Mitteln geführt. Der Krieg seit 2015 richtet sich auch gegen die Kurdinnen und Kurden in Europa. Uns ist das nicht klar, weil wir den Begriff Krieg sehr oberflächlich definieren. Seit 2015 ist die Anzahl von Agenten größer geworden. Es wird versucht, Hoffnungslosigkeit in der Bevölkerung zu verbreiten. Bei Demonstrationen und Veranstaltungen werden die Teilnehmenden registriert, es wird überwacht, welche Mutter die Farben gelb-rot-grün trägt. Es findet eine psychologische Kriegsführung statt. Es werden Agenten losgeschickt, um kurdische Politikerinnen und Politiker zu liquidieren. Die Freiheitsbewegung reagiert darauf mit noch stärkerer Organisierung. Wir müssen wissen, was um uns herum geschieht. Dieses Jahrhundert ist vor allem für das kurdische Volk sehr wichtig. Es gibt mehr Gelegenheiten, um die Freiheit zu erkämpfen. Mit den zunehmenden Gelegenheiten und zunehmendem Widerstand eskalieren jedoch auch die Angriffe des türkischen Staates auf uns. Inzwischen ist klar, dass wir in diesem Jahrhundert nicht mit dem türkischen Staat bestehen können. Aus diesem Grund findet ein harter Krieg statt. Mittlerweile bedroht Erdogan sogar seine Bündnispartner.
„Wir sind nicht mehr ,die Namenlosen'“
Wir sprechen von hundert Jahren nach dem Vertrag von Lausanne. Dieser Vertrag war eine Katastrophe für das kurdische Volk. Es wurde nicht nur Kurdistan in vier Teile aufgeteilt, wir wurden von der Weltkarte gestrichen. ,Es gibt keine Kurden', hieß es. Deshalb kann jeder kommen und uns töten. Selbst wenn der türkische Staat Chemiewaffen einsetzt, können wir nicht vor einem Gericht klagen. Uns gibt es nicht. Mit dem Paradigma und Kampf von Rêber Apo haben wir unter der Führung der Guerilla ein wichtiges Etappenziel erreicht. Wir sind nicht mehr ,die Namenlosen', wir sind eine wichtige Kraft in der Region. Wenn Frankreich, Deutschland, England mit dem türkischen Staat verhandeln, müssen sie uns als dritte Kraft in ihre Überlegungen einbeziehen. Wer im Nahen Osten Politik macht, kommt an den Kurdinnen und Kurden nicht vorbei. Das ist das Ergebnis eines seit fünfzig Jahren andauernden Kampfes. Je eindeutiger unsere Stärke wird, desto aggressiver verhält sich der türkische Staat. Deshalb befinden wir uns in einem erbarmungslosen Krieg, im ständigen Nahkampf. Das nächste halbe Jahr ist wichtig. Wenn wir auf 2022 zurückblicken, sehen wir, dass der türkische Staat zwar alle Mittel eingesetzt, aber nichts erreicht hat.“
Nach der Versammlung wurden entlang der Rue d’Enghien Kerzen aufgestellt und angezündet.