Angehörige klagen über hohe Suizidrate bei Soldaten

Ein Verein von Angehörigen türkischer Soldaten, die angeblich Suizid begangen haben sollen, beklagt öffentlich eine hohe Zahl an verdächtigen Todesfällen unter Rekruten, die mutmaßlich Opfer extralegaler Hinrichtungen durch eigene Leute wurden - ein Novum

Seit im Jahr 2012 in der Türkei eine Diskussion darüber entbrannte, dass die Anzahl jener Militärangehöriger, welche angeblich Selbstmord begingen, höher sei als die Zahl derer, die im Kampfeinsatz sterben, hat die Staatsführung keinen Überblick mehr über die Zahlen zu Todesfällen innerhalb der Streitkräfte vorgelegt. Auslöser der damaligen Debatte war ein Bericht der Menschenrechtskommission im türkischen Parlament, demzufolge 818 Soldaten, meist Rekruten, zwischen 2002 und 2012 im Kampfeinsatz ihr Leben ließen und in der gleichen Zeit in den Kasernen 934 Soldaten durch Selbstmord umkamen.

Den Stein ins Rollen brachte eine Initiative mit dem Namen „Soldatenrechte“. Bei einer Anhörung vor der Menschenrechtskommission beklagte sich die Vereinigung, in der sich ehemalige Soldaten zusammengefunden haben, darüber, dass das Kapitel „Selbstmord in Uniform“ in der Öffentlichkeit weitgehend tabuisiert werde, obwohl die Suizidrate innerhalt der Armee dramatisch sei. Als Motive der Selbsttötungen nannte die Initiative diverse Gründe: von schweren Beleidigungen durch Vorgesetzte über extreme körperliche Anstrengungen, die den Soldaten befohlen wurden, bis zum systematischen Schikanieren, Quälen oder Misshandeln durch Dienstältere. Liebeskummer, Schulden, verletztes Ehrgefühl oder psychische Erkrankungen galten als andere Ursachen und Hintergründe. Doch auch von Fällen, bei denen es sich eher um verdeckten Mord als Selbstmord handelte, war damals im Parlament die Rede.

Armeeführung: Schuld liegt bei Soldaten

Die türkische Armee, die sich gern als die größte in der Nato nach den USA preist, zeigte sich überrascht über die Zahlen zu Selbstmordfällen unter Soldaten. Großmündig wurde eine Reihe von Programmen angekündigt, um gegen den Suizid in Kasernen vorzugehen – parallel relativierte die Armeeführung die Statistik der parlamentarischen Menschenrechtskommission und schob den Rekruten die Schuld zu. Die wenigsten Taten hätten dienstliche Bezüge, sondern vielmehr private Gründe gehabt - etwa Depressionen mit jahrelanger Vorgeschichte oder Probleme im persönlichen Umfeld des Soldaten. Ob und was seither zur Suizidprävention innerhalb des Militärs getan wurde, ist nicht bekannt.

Das Kurdistan-Syndrom

Kurdische NGOs machen demgegenüber seit Jahren auf das „Kurdistan-Syndrom“ bei Soldaten aufmerksam - eine vom Staat verhüllte Kriegsrealität, und damit zusammenhängenden psychischen Erkrankungen. Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass der Krieg zwischen türkischem Militär und kurdischer Guerilla schwere Traumatisierungen und starke psychische Störungen bei Soldaten hervorruft, die zum Selbstmord führen können. In jüngerer Vergangenheit wurden bei grenzüberschreitenden Besatzungsoperationen in den Medya-Verteidigungsgebieten mehrere Suizidfälle unter türkischen Rekruten beobachtet – ein klarer Hinweis auf das Kurdistan-Syndrom. Und sogar das Verbrennen der Leichen von Soldaten durch Kameraden wurde in der Region dokumentiert. In Berichten der Menschenrechtsorganisation IHD tauchen zudem immer wieder Meldungen über verdächtige Todesfälle - angebliche Selbstmorde von Militärangehörigen auf, die in Wahrheit Opfer von extralegalen Hinrichtungen durch ihre eigenen Leute wurden, weil sie sich weigerten, an Kampfeinsätzen teilzunehmen.

Tod durch Selbstmord - Kein Märtyrerstatus und damit keine Rente für Hinterbliebene

Auch wenn offizielle Zahlen nicht verfügbar sind - die angebliche oder tatsächliche Suizidrate unter Soldaten scheint immer noch zu hoch. Darauf machte unlängst der „Verein von Familien aller Märtyrer, die nicht als solche gewertet werden“ aufmerksam. Die türkische Organisation setzt sich dafür ein, dass Soldaten, die sich im Kampfeinsatz das Leben genommen haben, als „Märtyrer“ gewertet und verdächtige Todesfälle im Wehrdienst aufgeklärt werden. In einem ungewöhnlichen Schritt berief der Verein vergangene Woche in Ankara eine öffentliche Pressekonferenz ein und klagte über eine hohe Zahl an fragwürdigen Todesfällen.

„Sie vernichten unsere Kinder“

„Es gibt Personen innerhalb gewisser Einrichtungen und Organisationen, die unsere Kinder regelrecht vernichten und sie mit der Darstellung des Suizids bei uns abliefern. Diese Söhne werden dann in aller Stille begraben, ohne ihr Recht auf den Status eines Gefallenen. In unzähligen Fällen führten von Hinterbliebenen angestrengte Verfahren zur Anerkennung dieser Soldaten als Märtyrer jedoch dazu, dass wir mit der Realität konfrontiert wurden, dass sie sich eben nicht das Leben nahmen, sondern von Personen in ihren eigenen Reihen ermordet wurden.“ Das sagte Havva Gölbez, die Vorsitzende des Vereins. Als Beispiel nannte sie unter anderem den Fall des Wehrpflichtigen Gökhan Kılıç, der 2017 von seinem Vorgesetzten mit einem Helm erschlagen wurde. Als Todesursache wurde eine Hirnblutung angegeben, zu der es ohne Fremdverschulden gekommen sei. Nur durch die Aussage eines Zeugen kamen die wahren Todesumstände ans Licht - und Kılıç wurde der Gefallenenstatus gerichtlich zugesprochen. Im Fall des Soldaten Nihat Özcan dauerte es ganze 28 Jahre, bis herauskam, dass er 1994 – nur vier Tage vor seiner Entlassung – nicht wie vom Militär behauptet, in der Nähe der syrischen Grenze von der PKK erschossen wurde, sondern von Dienstälteren in der Kaserne.

Keine Reaktion von Regierung

Man sei „entsetzt“ über die Masse an Soldaten, die angeblich Selbstmord begingen, sagte Gölbez. Offensichtlich ist die Zahl um ein Vielfaches höher als die Zahl jener, die an der Front starben. Genaue Daten nannte sie nicht, erklärte jedoch, dass nicht nur mutmaßliche Tötungsdelikte, sondern auch Krankheiten, Unfälle und andere Umstände, die zum Tod von Soldaten führten, systematisch als Suizid abgetan würden. Vom Staat verlange der Verein rechtliche Maßnahmen und juristische Instrumente, um verdächtige Todesfälle innerhalb der Armee aufzuklären, Täter zu bestrafen, eine Abteilung für Selbstmordprävention einzurichten und allen umgekommen Soldaten, egal unter welchen Umständen, den Märtyrerstatus zu geben. Bisher scheint von Regierungsseite niemand über das Anliegen Auskunft geben zu wollen.