Çayan Koçgirî: Was hast du bei der türkischen Armee zu suchen?

Çayan Koçgirî war Soldat der türkischen Armee in Gever, als 2013 drei Kurdinnen in Paris erschossen wurden. „Ich kannte Sakine Cansız nicht, aber ihr Bild sah mich an und sagte: Was hast du dort zu suchen?“, schreibt er in seinem Tagebuch.

Çayan Koçgirî (Veli Can Hunulu) ist in Istanbul geboren und aufgewachsen. Er stammte aus einer alevitisch-turkmenischen Familie aus Sêwas (tr. Sivas) und schloss sich 2013 der Guerilla an, als er seinen Militärdienst in Gever ableistete. Bei der Guerilla kämpfte er in Amed, Avaşîn, Şengal und Hezex. Im April 2020 ist er in Botan gefallen.

Vor drei Jahren hat Çayan Koçgirî im ANF-Interview erläutert, was ihn dazu gebracht hat, „Fahnenflucht“ zu begehen. In seinem Tagebuch schreibt er über diese Zeit: „Es war der 9. Januar 2013. Als ich den Fernseher anmachte, erschien eine Meldung: Drei Frauen in Paris ermordet. Im Hintergrund war ein Foto. Sakine Cansız, Leyla Şaylemez und Fidan Doğan. Es war, als ob mir kochendes Wasser über den Kopf gegossen worden wäre. Was war mit mir los? Mein Herzschlag wurde schneller. Vor Wut schlug ich mir auf die Brust. Ich war angespannt, mein Herz zog sich zusammen. Ich kannte Sakine Cansız nicht, hatte zuvor weder ihren Namen gehört noch ihr Bild gesehen. Warum war ich so betroffen und wütend? Die Kurden waren in Frankreich auf den Beinen. Ich befand mich physisch zwar in der türkischen Armee in Gever, aber ein Teil von mir war mit diesem Volk dort. Es war merkwürdig, zum Verrücktwerden. Das Bild sah mich an und sprach zu mir: Was hast du dort zu suchen, Veli? Ihr Blick berührte mich tief, was für ein revolutionäres Leben. Sei mutig, Veli, lauf los, auf diesen Berggipfeln ist die Guerilla.“

So kam Çayan Koçgirî zur Guerilla. Er wurde nach Amed geschickt. Dort lernte er den legendären Kommandanten Çiyager Hêvî kennen. In seinem Tagebuch schreibt er: „In den Bergen von Amed lernte ich Heval Çiyager kennen. Er kam zu mir, als ich erstmalig mein Wort als Guerillakämpfer geben sollte. Er sagte: Wir sind wertvoll, alle hier sind wertvoll, aber du bis wertvoller als wir alle. Du versprichst, das von anderen festgelegte Schicksal eines Volkes zu verändern, dem du nicht angehörst. Du wirst ein Militanter der Bewegung werden, die Kurdistan befreien wird. Das ist von großer Bedeutung. Auch wenn es für dich manchmal schwer sein wird, ist es Ausdruck von etwas sehr Bedeutungsvollem.“

Von Amed aus ging Çayan Koçgirî nach Südkurdistan ins Guerillagebiet Avaşîn und nach dem IS-Überfall 2014 schließlich nach Şengal. Darüber schrieb er später: „Es war in der Anfangszeit und das waren die Tagen, in denen ich am meisten Schwierigkeiten hatte. In unserem Bataillon waren Menschen von überall: Soranî; Kurmancî, Persisch, Amerikaner, Freunde von der MLKP, aus dem Irak, aus Südkurdistan, aus Rojava. Niemand kannte die Sprache der anderen, niemand verstand sich gegenseitig. Wir konnten uns nur anschauen und unsere Bewegungen deuten. Seit Tagen klebten meine Schuhe an meinen Füßen, die Islamisten griffen massiv an. Wir mussten das ezidische Volk beschützen. Ich hatte Heval Çiyagers Worte im Kopf. Ich, ein anderes Volk. Sie sind ein anderes Volk. Dabei hatten wir Gemeinsamkeiten, die uns ohne Berechnung zusammengebracht hatten. Wir waren alle Eziden in diesen Tagen, morgen werden wir vielleicht ein anderes Volk sein. Wo auch immer Despotismus herrscht, werden wir erneut auftauchen.“

Später kämpfte er unter dem großen Şengal-Kommandanten Çeko Çatak in Hezex (Idil, Provinz Şirnex/Şırnak) und nahm an der Offensive der Jugend Kurdistans zur Verteidigung der Existenz eines Volkes teil. Danach ging er zurück in die Berge. Er hat sich zusammen mit seinem Weggefährten Mervan Kerkûkî am 15. April 2020 in den Cûdî-Bergen in Botan der Karawane der Unsterblichen angeschlossen.