Ehemaliger Soldat ruft zur Kriegsdienstverweigerung auf

Çayan Koçgirî hat sich aufgrund der rassistischen Unterdrückung während seines Kriegsdienstes im türkischen Militär der PKK angeschlossen. Er ruft zur Kriegsdienstverweigerung auf: „Die Jugend darf dem System weiter nicht dienen.“

Immer öfter schließen sich Soldaten aufgrund der Misshandlungen und der rassistischen Unterdrückung, die sie im militärischen Zwangsdienst erleben, der Guerilla an. Das Mitglied der Volksverteidigungskräfte (HPG) Çayan Koçgirî ist einer der jungen Männer, welche die Unterdrückung im türkischen Militär nicht mehr hinnahmen und sich der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) anschlossen. Wir sprachen mit dem turkmenischen Guerillakämpfer.

Könnten Sie uns etwas über das Umfeld, in dem Sie aufgewachsen sind, erzählen? Was waren Ihre ersten Widersprüche zum System? Woher kommt Ihre Sympathie für die PKK?

Ich wurde 1992 in Sivas geboren und bin in Istanbul aufgewachsen. In dem Stadtviertel, in dem wir wohnten, gab es eine demokratische Mehrheit. In der Kultur des Stadtviertels gab es daher immer einen Widerspruch zum Staat. Ich bin Alevit und in einer demokratischen Familie turkmenischen Ursprungs aufgewachsen. Die PKK war in meinen Augen immer eine Bewegung, die gegen den türkischen Staat kämpft.

Schon als Kind erlebte ich den Widerspruch mit dem Staat und nahm an Aktionen teil. Ich habe aus Sympathie teilgenommen und wurde Teil der revolutionären Bewegungen der Türkei. Als mein Verständnis der Widersprüche des Systems wuchs und ich bewusster wurde, erschienen mir viele Aktionen, die wir im Namen der Revolution durchgeführt hatten, als liberal und reichten mir einfach nicht mehr aus.

Vor unseren Augen haben viele Massaker stattgefunden und wir waren wie gelähmt. Wir fühlten uns, als ob uns die Hände gebunden wären. Nach dem Massaker von Roboskî beschäftigte ich mich mehr mit der PKK. Die PKK wurde bei uns im Rahmen der Spezialkriegspolitik des Staates sehr negativ dargestellt. Das hat bei mir immer wieder Fragen aufgeworfen. 2009 wurde in Colemêrg (Hakkarî) die Brücke der revolutionären Jugend eröffnet. Wir sind dort hingegangen und das einzige, was uns die Menschen dort sagten, war: „Wenn ihr geht, erzählt den Menschen dort von uns.“ Ich habe es dort erlebt und gesehen. Deswegen habe ich schnell begriffen, was wirklich los ist.

Wie sind Sie dann Soldat des türkischen Staats geworden?

In meiner Familie bin ich mit solchen Widersprüchen aufgewachsen. Damals bin ich auch mehrmals festgenommen worden. Als sie von der PKK hörte, begann meine Familie mich anders zu behandeln. Sie sagte, die Zeit für den Militärdienst sei gekommen, und sie zwangen mich, zum Militär zu gehen. Für mich war es absurd, Soldat der kriminellen Bande einer Oligarchie zu werden. Ich hatte diese immer bekämpft. Aber es war, als gäbe es keinen anderen Ausweg. Andererseits ging mein Verfahren weiter. Also war ich dazu gezwungen und ging.

In der Zeit, in der Sie den Kriegsdienst absolvierten, wie war da die Intensität der Kämpfe?

Ich ging in einer Einheit von neuen Rekruten nach Samsun. Nach 25 Tagen in dieser Einheit weckten sie uns eines Tages auf und ließen uns zum Abschluss antreten. Ich habe gar nicht verstanden, wie ich die Ausbildungszeit ausgehalten habe. Die Ausbildung schuf einen roboterisierten Menschentypus. Bei meinem Abschlussbriefing wurde von Colemêrg und Gever (Yüksekova) gesprochen. Am Anfang kam es mir wie ein Witz vor. Es war das Jahr 2012, als der Krieg die höchste Intensität erreicht hatte. Ein Freund aus meinem Viertel war bei der Guerilla. Aufgrund solcher Überlegungen fiel es mir sehr schwer, nach Colemêrg zu gehen. 2012 war der türkische Staat dort praktisch zusammengebrochen. Das Militär konnte nicht einmal mehr Lebensmittel zu den Militärbasen bringen. Wenn die Guerilla die Belagerung einen weiteren Monat fortgesetzt hätte, dann wären alle Militärbasen dort verlassen worden. Diese Phase war für den türkischen Staat sehr schwer. Er konnte nicht zu seinen eigenen Stützpunkten vordringen und musste die Aktivitäten am Boden vollständig einstellen.

Ich ging zum Sammlungszentrum (KTM) in Xarpêt (Elazığ). Normalerweise lassen sie einen dort nicht lange warten, aber wie gesagt, damals war der türkische Staat in der Region am Zusammenbrechen. Nicht einmal ein Konvoi konnte rausfahren. Auf der Straße nach Çewlîg (Bingöl) hatte es eine Aktion der Guerilla gegen einen Militärkonvoi gegeben, dabei waren 110 Soldaten getötet worden. Die Soldaten hatten richtig Angst. Als wir nach Colemêrg fuhren und sie die hohen Berge sahen, zitterten sie regelrecht vor Furcht.

Gever war etwas flacher und das beruhigte die Soldaten. Sie sagten, da wo es keine Berge gibt, gibt es auch keine Guerilla. Aber auch hier fanden permanent Aktionen der Guerilla statt. Ich erinnere mich an so viele Leichen von Soldaten, die ich damals geborgen habe. Ich habe gesehen, wie die Soldaten flohen. Ich kann das alles bezeugen.

In den Medien ist immer von den ruhmreichen, tapferen türkischen Soldaten die Rede, entspricht dies der Realität?

Überhaupt gar nichts ist so, wie es in den Medien dargestellt wird. Ich habe es selbst erlebt und gesehen. Das kann ich sagen. Schon vor dem militärischen Einsatz werden die Rekruten gebrochen. Ein Sprichwort besagt, wenn man zum Militär geht, dann lässt man das Hirn vor der Kaserne zurück. Um den Menschen zu brechen, wird in diesem System jegliche Beschimpfung, jegliche ekelhafte Behandlung und jegliche Unmenschlichkeit angewandt. Ich dachte immer: „Wenn die heute Abend nach Hause gehen, wie können sie mit ihren Kindern zusammen sein“. Die hochrangigen Offiziere kommen und stoßen jegliche Beleidigungen aus. Selbst die Nationalistischen beschimpfen den Staat, den sie angeblich so lieben.

In den Medien bombardieren sie die Menschen mit ihren Parolen vom Vaterland, der Nation und so weiter, das sagen sie in die Kameras, aber nachdem die Kameras ausgeschaltet sind, stoßen sie auf die gleiche Weise die wüstesten Schimpfwörter aus. Es gab einmal eine Aktion mit Mörsern. Ich habe die Panik der Soldaten gesehen. Sie riefen immer wieder beim Kommandanten an und sagten: „Mein Kommandant, hilf uns.“ Nachdem die Granateinschläge aufhörten, kam der Kommandant, schaute mich an und sagte: „Na haben sie dich immer noch nicht kaputtgemacht.“ Ich war sein Soldat und er konnte so etwas einfach so zu mir sagen. Das alles ist normal und schafft natürlich Wut.

Du weißt, es sind Feinde, aber auch Soldaten neben mir empfanden diese Widersprüche. Bei jedem Gefecht heißt es: „So und so viele Terroristen wurden getötet“. Aber die Soldaten glaubten es nicht mehr. Zum Beispiel wurde behauptet, Kobra-Kampfhubschrauber seien aufgestiegen, obwohl kein einziger gestartet war. Das haben wir gesehen, denn die Kobras standen vor unserer Nase. Das alles haben die Soldaten gesehen.

Sie haben auf Gerilla TV die Aufnahmen von Aktionen geschaut und den Soldaten wurde richtig schlecht. Sie glaubten auch nicht mehr an ihre Technik. Der Staat hatte schon vor dem Krieg den Willen seiner Soldaten gebrochen. Es geht nicht um Türken gegen Kurden, sondern gegen das Wesen der Menschheit an sich. Der Existenzgrund des Staates ist ja die Vernichtung alles Guten.

Ich möchte noch ein weiteres Beispiel anführen. Zur Zeit von Şehîd Reşit fand im Herbst eine Operation in Xapûşke statt. Drei Soldaten wurden verletzt. Die Soldaten forderten Hilfe an. Der Staat kam nicht, um seine Soldaten abzuholen. Daraufhin schimpften die Soldaten, warum niemand zur Hilfe kam. Aber das ist die Haltung des Staates seinen eigenen Soldaten gegenüber. Dann stieg ein Hubschrauber auf, um sie zu holen, aber die Guerilla griff den Hubschrauber an, als er versuchte zu landen. Als der Helikopter zurückkam, war er innen voller Blut. Wir haben die Leichen ausgeladen. Als sich die Guerilla dann aus dem Gebiet zurückgezogen hatte, kamen die Kobras und bombardierten eine leere Region. Der Staat verhielt sich nach dem Motto: „Die Mütter gebären neue Soldaten, können aber keine neuen Kobras gebären.“

In den Medien ist immer wieder von „verdächtigen Todesfällen“ in der Armee die Rede. Was ist Ihre Erfahrung dazu?

Einmal starb ein Soldat neben uns. Es hieß, dabei handele es sich um einen verdächtiger Todesfall. Aber wir wussten alle, dass er bewusst umgebracht worden war. Es hatte geschneit. Es lagen dort zwei Granatwerferpatronen, wenn sie zusammenstoßen, dann explodieren die Patronen. Uns wurde gesagt, es wäre ein Unfall gewesen. Aber da wir die Unterdrückung kannten, die gegen die eigenen Soldaten praktiziert wurde, glaubten wir das keinen Augenblick. Der Staat vertuschte den Vorfall. Um Opfer eines „verdächtigen Todesfalls“ zu werden, reicht schon aus, eine Sache nicht hinzunehmen. Und sowieso, wenn du Kurde, Alevit oder Turkmene bist, dann kommst du noch einfacher auf diese Liste. 99 Prozent der sogenannten „verdächtigen Todesfälle“ sind gezielte Morde.

Wie haben Sie entschieden, sich der PKK anzuschließen?

Ich hatte gerade den zehnten Monat meines Militärdienstes hinter mir und genug gesehen. Damals sagte ich mir: „Es ist Zeit, hier herauszukommen.“ Ansonsten wäre ich ein Mensch geworden, der an die Familie gefesselt ist und den der Staat zu erziehen versucht. Ich fühlte mich damals schuldig. Zu dieser Zeit war Sakine Cansız ermordet worden. Als ich das im Fernsehen sah, hat es mich sehr bewegt. Der „Lösungsprozess“ hatte begonnen und es gab den Aufruf der Führung. Ich kannte damals die Partei nicht richtig, aber ich konnte den Rückzug der Guerilla nicht gut verdauen, denn ich habe dem Staat niemals getraut.

Damals begann eine Zeit, in der Soldaten leicht Urlaub bekommen konnten. Natürlich gab es so etwas vorher nicht. Sie fürchteten sich. Die Lage bei den Soldaten entspannte sich. Ich sagte, ich wollte Urlaub machen. Es war die Zeit von Gezi und die Revolution lag in der Luft. Berkin Elvan kam aus unserem Viertel. Zu dieser Zeit entschied ich: „Jetzt ist es soweit, ich werde nicht zum Militär zurückkehren.“ Damals ging es gerade in Rojava los. Der türkische Staat hatte sich dem Krieg gegen Rojava verschrieben. Daraufhin bin ich der PKK beigetreten.

Was ist der systemische Unterschied zwischen Guerilla und Militär?

Ich habe mich der PKK angeschlossen. Natürlich ist das ein Riesenunterschied. Während ich eine Woche zuvor ein Soldat der türkischen Armee gewesen war, kam mir der Übergang ins System der HPG absurd vor. Am Anfang kamen mir viele Dinge bei der PKK komisch vor. Ich konnte nicht verstehen, was mit Tekmil, Kritik und Selbstkritik gemeint war. Ich kam aus einem kaputten Umfeld voller Schimpfworte und Beleidigungen zur PKK.

Es gibt wirklich einen abgrundtiefen Unterschied. Ich kannte auch die Psychologie des türkischen Staates. Das System der türkischen Armee ist auf Spezialkrieg und Technik aufgebaut. Jeder von uns zählte die Tage bis zum Ende der 15 Monate Wehrdienst. Aber bei der Guerilla war das nicht so. Es gab eine Verbundenheit, ja eine Spiritualität. Es gab ein Ziel. Es gab den Kampf für die unterdrückten Völker. Die PKK war wie ein Ozean. Als ich die Verteidigungsschriften und die Analysen las, habe ich alles besser verstanden. Es tat mir gut, die Atmosphäre hier kennenzulernen und zu erleben und einige Dinge zu analysieren. Ich sehe die Realität jetzt sehr deutlich.

Sie haben das Soldatenleben für den türkischen Staat und das Leben in der PKK aus der Nähe kennengelernt. Was möchten Sie vor diesem Hintergrund insbesondere der kurdischen Jugend sagen?

Heute finden in Kurdistan und der Türkei durch im Ausnahmezustand schwere Repression, Massaker und ähnliches statt. Wir dürfen die Vorfälle in Cizîr und Sûr nicht vergessen. Kein Mensch soll mehr seine Stimme erheben können, aber jetzt müssen alle noch lauter werden. Mein Aufruf richtet sich nicht nur an die kurdische Jugend, ich richte meine Worte an alle jungen Menschen, die unter der Unterdrückung in der Türkei leiden. In einem monistischen System, in dem Freiheit und ein freier Wille keinen Platz haben, ist das Leben die blanke Sklaverei. Deshalb sollen alle Jugendlichen den türkischen Militärdienst verweigern und sich der der Guerilla anschließen. Der Kampf der Guerilla ist nicht nur ein kurdischer Kampf, es ist der Kampf aller Völker. Die Menschen dürfen nicht weiter dem System dienen.