Exilpolitiker:innen fordern Freilassung von HDP-Abgeordneten

Dutzende aus der Türkei geflohene ehemalige Abgeordnete und Bürgermeister:innen fordern die Freilassung der im Kobanê-Prozess in Ankara verurteilten HDP-Mitglieder: Das Urteil sei eine politische Entscheidung, die auch Europa betreffe.

Politisches Urteil mit Signalwirkung

In dem als Kobanê-Verfahren bekannten Schauprozess in Ankara gegen insgesamt 108 Personen sind vergangene Woche 24 der Angeklagten im Zusammenhang mit den Protesten gegen den IS-Angriff auf Kobanê im Jahr 2014 zu hohen Freiheitsstrafen verurteilt worden. Die seit November 2016 inhaftierten früheren Ko-Vorsitzenden der HDP, Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ, erhielten Rekordstrafen von 42 beziehungsweise 32 Jahren Haft. Zwölf Beschuldigte wurden freigesprochen, das Verfahren gegen die übrigen Angeklagten geht abgetrennt weiter.

Einige der angeklagten Politikerinnen und Politiker leben inzwischen im europäischen Exil, so etwa die ehemalige HDP-Abgeordnete Selma Irmak, die bereits viele Jahre im Gefängnis war. Die kurdische Exilpolitikerin hat zusammen mit Dutzenden weiteren aus der Türkei geflüchteten Mandatsträger:innen der HDP eine Stellungnahme zu dem Prozess abgegeben und die Freilassung der Inhaftierten gefordert:

„Wir lehnen die ungesetzlichen und grausamen Urteile gegen unsere Ko-Vorsitzenden, Abgeordneten und Vorstandsmitglieder entschieden ab und erkennen sie nicht an. Die Solidarität mit Kobanê war eine politische und moralische Verpflichtung. Wir kündigen unsere Entschlossenheit an, unseren Kampf für Rechte und Gerechtigkeit unaufhörlich fortzusetzen, bis alle unsere Genossinnen und Genossen, die in diesem und anderen inszenierten Verfahren verurteilt oder angeklagt wurden, ihre Freiheit wiedererlangen.“

Inszeniertes Komplott

Die ehemaligen Abgeordneten und Bürgermeister:innen bewerten das Kobanê-Verfahren als ein unter der Leitung der polizeilichen Antiterrorabteilung inszeniertes Komplott, um eine Grundlage für das von der türkischen Regierung anvisierte Verbot der HDP zu schaffen. Die Anschuldigungen seien so fadenscheinig und unbegründet gewesen, dass am 16. Mai zwangsläufig alle Angeklagten zumindest von Mordvorwürfen freigesprochen werden mussten.

„Die HDP-Abgeordneten wurden dafür bestraft, dass sie ihre demokratischen Pflichten gegenüber dem Volk, das sie gewählt hat, im Rahmen der Europäischen Menschenrechtskonvention erfüllt haben, dass sie für den Genuss der Menschenrechte und Grundfreiheiten für alle eingetreten sind, und natürlich dafür, dass sie sich für Verhandlungen und Frieden gegen die Kriegspolitik des Staates eingesetzt haben. Mit diesem unrechtmäßigen Urteil wurde das aktive und passive Wahlrecht von einem Gericht usurpiert“, erklären die Exilpolitiker:innen.

Urteil mit Signalwirkung

Der Prozess und die verhängten Urteile seien „ein Zeichen dafür, dass das türkische Establishment den mit den Wahlen vom 31. März zum Ausdruck gebrachten Willen der Gesellschaft nach Veränderung und die sich abzeichnende demokratische Orientierung an den Forderungen der Kurdinnen und Kurden weiterhin in Frage stellt und dass die Erwartungen an eine spontane Veränderung des autokratischen Charakters des Regimes einer realistischen Grundlage entbehren.“

Forderungen an Europa

In der Erklärung wird außerdem darauf hingewiesen, dass die Türkei verbindliche Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte missachtet. Insofern sei das Urteil im Kobanê-Prozess auch „Ergebnis der Unfähigkeit des Ministerkomitees des Europarates, dafür zu sorgen, dass Ankara die EGMR-Urteile durchsetzt“, so die Exilpolitiker:innen:

„Es besteht kein Zweifel daran, dass die Urteile der politischen Entscheidung folgen, die Kurdinnen und Kurden aus der demokratischen Politik auszuschließen und die kurdische Frage nicht zu lösen. Bestraft werden diejenigen, die gegen den IS kämpfen. Gleichzeitig bringt es zum Ausdruck, dass die politische Linie der Türkei, den IS und ähnliche salafistische Banden und Organisationen zu unterstützen, weiterhin aufrechterhalten wird. Daher ist das Urteil auch eine Bedrohung für alle Gemeinschaften, die der IS zu Ungläubigen erklärt hat. In diesem Zusammenhang fordern wir die Vereinten Nationen, den Europarat, die Europäische Union und ihre Mitgliedsregierungen auf, ihren Teil zur Wiederaufnahme eines glaubwürdigen demokratischen und politischen Friedensprozesses beizutragen, mit dem Ziel, die kurdische Frage dauerhaft zu lösen, wie es im Türkei-Bericht 2023 der Europäischen Kommission betont wird. Wir fordern die auf ihrer Agenda stehenden Sanktionen gegen dieses Urteil, das direkt von der Erdoğan-Regierung erlassen wurde, umzusetzen.“

Unterzeichnende

Bei den im europäischen Exil lebenden Politikerinnen und Politikern und ihren ehemaligen Ämtern handelt es sich um:

Ali Atalan, Abgeordneter
Ayşe Acar Basaran, Abgeordnete
Bedia Özgökçe Ertan, Ko-Bürgermeisterin von Van
Besime Konca, Abgeordnete
Demir Çelik, Abgeordneter
Dilan Dirayet Taşdemir, Abgeordnete
Dilek Öcalan, Abgeordnete
Ertuğrul Kürkçü, Abgeordneter
Fatma Kurtulan, Abgeordnete
Feleknas Uca, Abgeordnete
Ferhat Encü, Abgeordneter
Faysal Sarıyıldız, Abgeordneter
Hasip Kaplan, Abgeordneter
Hatip Dicle, Abgeordneter
Hişyar Özsoy, Abgeordneter
Leyla Birlik, Abgeordnete
Lezgin Botan, Abgeordneter
Kemal Aktas, Abgeordneter
Mehmet Emin Adiyaman, Abgeordneter
Musa Farisoğullari, Abgeordneter
Nihat Akdogan, Abgeordneter
Nuran Imir, Abgeordnete
Nursel Aydogan, Abgeordnete
Osman Baydemir, Abgeordneter
Pero Dundar, Abgeordnete
Remziye Tosun, Abgeordnete
Saadet Becerekli, Abgeordnete
Selim Sadak, Abgeordneter
Selma Irmak, Abgeordnete
Serpil Kemalbay, Abgeordnete
Sibel Yiğitalp, Abgeordnete
Tuğba Hezer Öztürk, Abgeordnete
Yurdusev Özsökmenler, Abgeordnete
Ziya Pir, Abgeordneter
Hüsamettin Zenderlioğlu, Abgeordneter
Osman Özcelik, Abgeordneter
Filiz Koçali, HDP-Vizevorsitzende
Metin Tekçe, Ko-Bürgermeister von Hakkari
Hüseyin Yilmaz, Ko-Bürgermeister von Ağrı
Fırat Anlı, Ko-Bürgermeister von Diyarbakır
Hatice Coban, Ko-Bürgermeisterin von Van
Cemile Eminoglu, Ko-Bürgermeisterin von Bismil
Zülküf Karatekin, Ko-Bürgermeister des Stadtbezirks Kayapınar/Diyarbakır
Nejdet Atalay, Ko-Bürgermeister von Batman
Fatma Şık, Ko-Bürgermeisterin von Sur/Diyarbakır
Nadir Bingol, Ko-Bürgermeister von Ergani/Diyarbakır
Şükran Sincar, Ko-Bürgermeisterin von Uludere/Şırnak
Cemal Özdemir, Ko-Bürgermeister von Sur
Yüksel Baran, Ko-Bürgermeisterin von Bağlar/Diyarbakır
Leyla Imret, Ko-Bürgermeisterin von Cizre
Veysel Keser, Ko-Bürgermeister von Ipekyol/Van
Rukiye Baran, Ko-Bürgermeisterin von Çınar/Diyarbakır
Ayten Sezgin, Ko-Bürgermeisterin von Veyselkarani/Bitlis
Nezahat Ergunesh, Ko-Bürgermeisterin von Bostaniçi/Van
Abdullah Demirbas, Ko-Bürgermeister von Sur
Hasan Basri Firat, Ko-Bürgermeister von Hınıs/Erzurum
Hüseyin Güneş, Ko-Bürgermeister des Stadtbezirks Varto/Muş
Burhan Kocaman, Ko-Bürgermeister von Karakoçan/Elazığ
Nuran Atli, Ko-Bürgermeisterin von Mazıdağ/Mardin
Abdurrahman Zorlu, Ko-Bürgermeister der Gemeinde Hani/Diyarbakır
Yüksel Bodakci, Ko-Bürgermeister von Silvan/Diyarbakır
Gulay Peker, Ko-Bürgermeisterin von Hınıs/Erzurum
Zilan Aldatmaz, Ko-Bürgermeisterin von Saray/Van
Shuna Atabay, Ko-Bürgermeisterin von Çaldıran/Van
Emrullah Cin, Ko-Bürgermeister von Viranşehir/S.Urfa
Semira Varli, Stadtratsmitglied in Van