Die rassistischen Attacken auf kurdische Arbeiter*innen führt Keleş auf die diskriminierende Sprache und Politik der Regierung zurück. Er betont zudem, wie zentral das Schicksal der Saisonarbeitenden für die Gesellschaft ist: „Die problematische Situation der Saisonarbeitenden muss als grundlegende Wunde unserer Gesellschaft gesehen werden.“
Laut Keleş haben sich die Probleme bei der Saisonarbeit während der Pandemie noch einmal verschärft: „Dass die saisonal in der Landwirtschaft arbeitenden Menschen Wanderarbeiter*innen sind, sagt viel über die Umstände aus, unter denen sie leben. Sie verlassen ihre Häuser und werden an fremden Orten mit existenziellen Problemen konfrontiert. Einige von ihnen mögen von ihren Chefs in eigens für sie errichteten Häusern untergebracht werden, aber das gilt nur für wenige. Der Rest ist gezwungen, in Zelten zu leben. Sie trinken aus Brunnen und haben keinen Strom. Wenn wir uns das im Kontext der Pandemie vorstellen, wird klar, unter was für harten Bedingungen diese Menschen arbeiten.“
Ahmet Keleş ist seit November Generalsekretär von Tarım-Orkam-Sen. Zuvor war er der Schatzmeister.
Selbstaufgebaute Landwirtschaft nach neolithischem Vorbild
Durch das Zusammenkommen von Industrialismus und Neoliberalismus ist die Arbeit der Menschen noch billiger geworden, und die Arbeitskraft habe sich proportional dazu entwickelt, führt Keleş weiter aus. „Wenn wir uns die Orte angucken, an denen diese Menschen leben, lässt sich die Natur des Problems gut darstellen. Dann stellt sich die Frage, wie unsere Lösungsansätze aussehen sollten. Die Saisonarbeit in der Landwirtschaft kann verhindert werden. Die Pandemie hat sehr deutlich gezeigt, dass die Menschen ohne Landwirtschaft und ohne Essen nicht überleben können. Aus unserer Sichtweise ist es in Pandemiezeiten nötig, die Menschen wieder zu sich selbst, zu einem Zeitalter von selbstaufgebauter Landwirtschaft nach neolithischem Vorbild zu bringen.“
Die Probleme der Saisonarbeitenden in der Pandemie wurden nicht gesehen
Die zur Lösung dieser Probleme nötigen Schritte fast Keleş folgendermaßen zusammen: „Wir müssen Schritte dahin machen, dass sich die Menschen in ihrer Region zusammen mit den Landwirten wieder um ihre Belange kümmern. Wenn dabei mit den Agraringenieurskammern und den Gewerkschaften zusammengearbeitet wird, kann das Erfolg haben. Wir können auch beobachten, dass die Probleme nicht gelöst werden, wenn wir sie der AFAD [Staatliche Katastrophenschutzbehörde] oder den Beobachtungsstellen der Gouvernementsverwaltungen überlassen. Während der Pandemie gab es Verfügungen seitens des Landwirtschafts- und des Innenministeriums, aber die Interessen der Saisonarbeitenden wurden darin nicht berücksichtigt.”
Kurdische Arbeiter werden als terroristisch dargestellt
In Zusammenhang mit den rassistischen Angriffen auf kurdische Arbeiterinnen und Arbeiter weist Keleş auf die Verantwortung des diskriminierenden Politik der Regierung hin: „Die orientalistisch modernistische Erzählung, die der Öffentlichkeit vermittelt wird, befeuert Rassismus und Nationalismus. Mit dieser Betrachtungsweise wird ein „Terrorismus“-Vorwurf gegenüber den kurdischen Arbeitern kreiert. Neben den sowieso schon harten Arbeitsbedingungen sind die Beschäftigten auch noch damit konfrontiert. Und das Recht, sich selbst dazu zu äußern, wird ihnen auch nicht zugestanden. Das Kriegskonzept in der Region beinhaltet das Verbot der Bewirtschaftung von landwirtschaftlichen Flächen, so dass die Menschen sich nicht in ihrer eigenen Heimat versorgen können. Die rassistischen Übergriffe, denen sie an ihren Arbeitsorten ausgesetzt sind, entspringen der Politik der Regierung.“