Mit einer Menschenkette im Istanbuler Bezirk Sancaktepe haben am Samstag Hunderte Aktivist*innen des Bündnisses „Entweder Kanal oder Istanbul“ gegen den „Kanal Istanbul“ protestiert, den der türkische Staatschef Erdoğan gegen eine große Protestbewegung durchsetzen will. Der von der türkischen Regierung für die Schifffahrt geplante Kanal soll parallel zum Bosporus verlaufen und das Schwarze Meer mit dem Marmarameer verbinden. Man wolle den intensiven Schiffsverkehr auf dem Bosporus entlasten und Unfälle vermeiden, heißt es aus Regierungskreisen. Gegner*innen vermuten, dass die AKP-Regierung mit diesem zerstörerischen Großprojekt, das 2023 zum hundertsten Jahrestag der Gründung der Türkei fertiggestellt sein soll, ihren Macherhalt sichern will. Wissenschaftler*innen prognostizieren verheerende Auswirkungen für die Umwelt, falls der Kanal-Bau verwirklicht wird.
An der heutigen Kundgebung nahmen neben Politikerinnen und Politikern der HDP und CHP auch zahlreiche Vertreter*innen der Zivilgesellschaft teil. Unter den Aktivist*innen, die mit Parolen wie „Wir wollen keinen Kanal, sondern leben“ oder „Nicht grün wie Dollar sondern grün wie Natur“ ihren Unmut gegen das Megaprojekt zum Ausdruck brachten, waren von jung bis alt alle Altersgruppen vertreten. Viele Frauen hatten ihre Babys mitgebracht.
Mega-Projekt mit Mega-Kosten
Der Aktivist Koray Türkay sagte in einer Ansprache, dass der Kanal sowohl ein Spekulationsprojekt als auch ein Projekt der Umweltzerstörung sei und machte auf die enormen Baukosten aufmerksam. Laut dem Bericht zur Umweltverträglichkeitsprüfung (CED) des Ministeriums für Umwelt und Städtebau, die das Bauvorhaben geprüft und als „positiv” eingeschätzt hatte, werden sich die Kosten des Kanals auf knapp 11,5 Milliarden Euro belaufen. Türkay hält diese Zahlen für unrealistisch und auch Expert*innen rechnen mit viel höheren Kosten. „Mit dem Geld könnten 10.000 neue Schulen gebaut und der Arbeiterklasse ein Leben in Würde ermöglicht werden. Stattdessen soll es in ein Projekt fließen, das nichts anderes als Zerstörung mit sich bringt“, sagte Türkay.
Insel an katarisches Kapital verkauft
Der „Kanal Istanbul“ schafft quasi eine neue Insel zwischen Kanal und Bosporus in der 16-Millionen-Metropole. In der Umgebung sollen auf 453 Millionen Quadratmetern neue Wohngebiete entstehen. Nach Angaben des Istanbuler Katasteramtes wurden entlang der geplanten Kanalstrecke bereits 30 Millionen Quadratmeter Land als billiges Ackerland verkauft. Nach dem Kanalbau würde es zu teuerstem Bauland mutieren, versteht sich. Die Spekulanten kommen aus dem arabischen Raum. Die drei größten Firmen sind aus Katar, Kuweit und Saudi-Arabien. Die Mutter des katarischen Emirs Scheich Tamim bin Hamad Al Thani, Scheicha Musa bint Nasser al-Missned, hat in Istanbul eigens eine Firma mit 100.000 TL Kapital gegründet und bereits große Landflächen genau an der Strecke des Kanals Istanbul gekauft. Diese Allianz zwischen AKP und Katar ist bereits aus der gemeinsamen Unterstützung für Dschihadisten in Syrien bekannt.
Weitere Risiken
Nach Angaben des Bündnisses soll für den Kanalbau eine Fläche von 36.453 Hektar weichen, die als Gebiet für Wasserreservoirs, Landwirtschaft und Forst festgeschrieben ist. Hauptkritikpunkte an dem Projekt sind die Zerstörung des ökologischen Gleichgewichts und der Wasserversorgung der Stadt.
Diese „Neustadt“ Istanbuls bringt noch weitere Risiken mit sich. Sie wird direkt auf der Verwerfungslinie zwischen Asien und Europa gebaut: Ein Fakt, vor dem die Ingenieurs- und Architektenkammer TMMOB und die Stadtverwaltung von Istanbul bereits wiederholt gewarnt haben.
Zum Widerstand entschlossen
Koray Türkay erklärte, das Bündnis sei fest entschlossen, Widerstand bis zum Äußersten zu leisten – koste es, was es wolle. Die Zerstörung Istanbuls, irreversible Schäden im Ökosystem der Stadt würden billigend in Kauf genommen, nur weil es rentabel erscheine. „Das sehen wir nicht ein. Entweder der Kanal, oder Istanbul“, so der Aktivist.