Eine Kette aus Istanbuler*innen und Lichtern hat sich am Freitagabend im Bezirk Kadıköy gebildet, um gegen den geplanten Bau eines zweiten Schiffahrtsweges zwischen Marmarameer und Schwarzem Meer zu protestieren. Das vom türkischen AKP-Regime geplante Megaprojekt „Istanbul-Kanal“ bedroht nach Einschätzung von Umweltschützer*innen und der Opposition das ökologische Gleichgewicht und die Trinkwasserversorgung des gesamten Großraums Istanbul und könnte zu einer folgenschweren Veränderung der ökologischen Verhältnisse im Marmarameer, im Bosporus und im Schwarzen Meer führen. Der 150 Meter breite und etwa 40 Kilometer lange Kanal soll sich mitten durch die 16-Millionen-Metropole schlängeln. Es droht der Verlust von 450 Hektar Wald, die Vernichtung der Wasserressourcen und eine Zunahme des Erdbebenrisikos. Dennoch hält die Regierung an ihrem Vorhaben fest, mit dem Mammutprojekt Istanbul zu zerstören.
Zu der Menschenkette, die vor der Süreyya-Oper startete, hatte das Bündnis „Entweder Kanal oder Istanbul“ aufgerufen. Trotz Dauerregen waren Hunderte Menschen gekommen, um ihren Unmut über das Regierungsprojekt zum Ausdruck zu bringen. Neben vielen bekannten Menschenrechtler*innen und Vertreter*innen der Zivilgesellschaft waren unter den Teilnehmenden auch Politiker*innen wie die HDP-Abgeordnete Züleyha Gülüm und der TIP-Abgeordnete Erkan Baş. Immer wieder fielen lautstark Parolen wie „Entweder Kanal oder Istanbul”, „Erdbebenbudget statt Kanalbudget”, „Unsere Flüsse und Wälder sind kein Kapital” und „Mit Widerstand zum Sieg”. Vor Beginn der Aktion kam es kurzzeitig zu Unruhen zwischen Demonstrant*innen und der Polizei: die Beamten führten aggressive Taschenkontrollen durch und schikanierten Journalist*innen mit Ausweiskontrollen.
Istanbul soll verschwinden, damit Reiche noch reicher werden
Zum Ende der Menschenkette hielt Melis Akyürek vom Bündnis „Entweder Kanal oder Istanbul“ eine abschließende Rede. Die Umweltaktivistin prognostizierte verheerende Auswirkungen, falls der Kanal-Bau verwirklicht wird. „Sollte das Projekt umgesetzt werden, würde den Bewohnerinnen und Bewohnern Istanbuls das Wasser ausgehen. Aus dem Terkos-See würde eine Salzwüste, der Sazlıdere-Staudamm würde verschwinden. In die Süßwasser-Lagune Küçükçekmece und alle unterirdischen Gewässer würde sich Salzwasser mischen. Die Häuser und Grundstücke der Einwohner*innen würden beschlagnahmt werden – die Besitzer*innen enteignet. Das Marmarameer würde austrocknen, seine Fischarten aussterben. Es würde zu einem toten Meer verkommen. Das Abwassersystem der gesamten Stadt würde immense Schäden davontragen. Die Wasserressourcen und die Wälder im Norden der Stadt würden vernichtet werden. Es droht ein Verlust von 23 Millionen Quadratmetern Wald, 136 Quadratmetern Anbaufläche und Gewässerboden. Dies hätte zur Folge, dass eine große Anzahl von Pflanzenarten, einschließlich seltener und gefährdeter Arten, aussterben würde. Vögel, Säugetiere und andere Lebewesen würden wichtige Brut-, Wander- und Überwinterungsgebiete verlieren. Die Population dieser Tiere würde sich somit erheblich reduzieren.
Istanbul würde jahrelang nur Staub und Gift einatmen. Das Leben unserer Liebsten würde jeden Tag durch Baufahrzeuge bedroht werden. Tausende Jahre urbaner Erinnerung würden verschwinden. Die antike Stadt Bathenoa und die Yarımburgaz-Höhlen, eine der ersten Siedlungen in Istanbul, würden untergehen. Und das alles, damit eine Handvoll reicher Menschen noch reicher werden.“
Insel an katarisches Kapital verkauft
Der „Kanal Istanbul“ schafft quasi eine neue Insel zwischen Kanal und Bosporus in der Millionen-Metropole Istanbul. In der Umgebung sollen auf 453 Millionen Quadratmetern neue Wohngebiete entstehen. Nach Angaben des Istanbuler Katasteramtes wurden entlang der geplanten Kanalstrecke bereits 30 Millionen Quadratmeter Land als billiges Ackerland verkauft. Nach dem Kanalbau würde es zu teuerstem Bauland mutieren, versteht sich. Die Spekulanten kommen aus dem arabischen Raum. Die drei größten Firmen sind aus Katar, Kuweit und Saudi-Arabien. Die Mutter des katarischen Emirs Scheich Tamim bin Hamad Al Thani, Scheicha Musa bint Nasser al-Missned, hat in Istanbul eigens eine Firma mit 100.000 TL Kapital gegründet und bereits große Landflächen genau an der Strecke des Kanals Istanbul gekauft. Diese Allianz zwischen AKP und Katar ist bereits aus der gemeinsamen Unterstützung für Dschihadisten in Syrien bekannt.
Weitere Risiken
Nach Angaben des Bündnisses soll für den Kanalbau eine Fläche von 36.453 Hektar weichen, die als Gebiet für Wasserreservoirs, Landwirtschaft und Forst festgeschrieben ist. Hauptkritikpunkte an dem Projekt sind die Zerstörung des ökologischen Gleichgewichts und der Wasserversorgung der Stadt.
Diese „Neustadt“ Istanbuls bringt noch weitere Risiken mit sich. Sie wird direkt auf der Verwerfungslinie zwischen Asien und Europa gebaut: Ein Fakt, vor dem die Ingenieurs- und Architektenkammer TMMOB und die Stadtverwaltung von Istanbul bereits wiederholt gewarnt haben.